Kinderarmut - Ein Beispiel:Sorgen zum Schulstart

Inge Weber ist 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines sechsjährigen Sohnes und lebt seit zwei Jahren von Hartz IV. Was kostet der Schulanfang?

Christa Eder

Nein, in ihrer Wohnung wolle sie sich nicht zum Interview treffen, sagt Inge Weber (Name von der Redaktion geändert). Lieber anderswo. Nicht, weil sie sich geniere, in einem Sozialbau zu leben, da gebe es schon Schlimmeres, aber lieber sei ihr ein Ort, an dem sie nicht "daran" erinnert werde.

Daran, wie es um sie steht. Frau Weber ist 39 Jahre alt, alleinerziehende Mutter eines sechsjährigen Sohnes und lebt seit zwei Jahren von Hartz IV. Früher, als ihr Mann noch selbständig war, wohnte die Familie am Arabellapark und gehörte zur gehobenen Mittelschicht. Dann kamen Konkurs, Pfändungen, Trennung.

Heute bekommt sie monatlich 880 Euro von der Arbeitsgemeinschaft für Beschäftigung München (Arge), plus 280 Euro Wohngeld, 154 Euro Kindergeld und 170 Euro Unterhaltsvorschuss vom Jugendamt. Insgesamt also 1484 Euro.

Inge Weber wohnt in einer geförderten Wohnung in Oberföhring, dennoch zahlt sie für ihre Wohnung knapp 900 Euro Warmmiete, inklusive Garagenstellplatz, den sie zwar nicht braucht, aber trotzdem dazumieten musste. Nach Abzug der Miete bleiben ihr 584 Euro zum Leben.

"Eine Schultüte ist nicht zwingend notwendig"

Der Betrag muss reichen, einen Monat lang für all die Ausgaben, die anfallen, für Strom, Telefon, MVV-Tickets, Essen, Kleidung, Haushalt. Das Nötigste eben. Urlaub, Kino, Essen gehen ist für Frau Weber schon lange nicht mehr drin: "Ich kann mich gar nicht mehr erinnern, wann ich das letzte Mal in einem Café gewesen bin."

Im September wird ihr Sohn eingeschult. Schon die sechs Euro für die Schultüte, die er im Kindergarten gebastelt hat, hätten ihr "weh getan", sagt sie. "Das ist für mich wie für andere 20 Euro", erklärt sie und überlegt dann einen Augenblick. "Sicher, eine Schultüte ist ja nicht zwingend notwendig, um zu überleben. Aber man kann doch sein Kind nicht als Einziges ohne Schultüte in die Schule schicken?" Frau Weber rechtfertigt sich. Für sechs Euro, die sie ausgegeben hat.

Für Hartz-IV-Familien ist es geradezu ein warmer Regen, dass die Stadt jetzt erstmals einen freiwilligen Sonderzuschuss von 100 Euro zum Schulstart gewährt. Der Vorschlag kam von Sozialreferent Friedrich Graffe (SPD) und mündete im Mai 2007 in einen Stadtratsbeschluss zur "Bekämpfung extremer Armut und Armutsentwicklung". Insgesamt stellt die Stadt dafür 140000 Euro zur Verfügung.

Weitere, die Schule betreffende Mittel waren 63000 Euro für Hausaufgabenhilfe und 270000 Euro für die Ausweitung des Projekts "Kuss" (Kinder, Unterricht und Systeme für Schulerfolg). Eltern, die Arbeitslosengeld II oder Sozialgeld beziehen und Schulanfänger haben, werden von der Arge benachrichtigt und können einen Antrag auf die 100 Euro stellen. Nötig ist nur ein Nachweis, dass das Kind auch wirklich eingeschult wird.

Teure Saurier

Problematisch ist, dass die Hartz-Gesetzgebung solche zusätzlichen Hilfen nur in sehr geringem Maß erlaubt. Der Hilfsverein "Einspruch" vertritt die Auffassung, dass bei der Einschulung zusätzliche Materialkosten geltend gemacht werden können. Die Arge könne auf Nachweis entsprechender Belege ein Darlehen gewähren, das im Ermessensfall auch als Zuschuss gewertet werden könne und dann nicht mehr zurückgezahlt werden müsse.

Die Finanzspritze der Stadt jedenfalls deckt, so hilfreich sie ist, nur einen Teil des Starterpakets. Die zusätzlichen 60 Euro haben für dieses Mal Frau Webers Eltern spendiert. Denn wenn ein Kind zur Schule kommt, fallen erhebliche Kosten an. Schon der Schulranzen habe 110 Euro gekostet, das gefüllte Federmäppchen 30, die Turnsachen noch einmal 20, sagt Inge Weber.

Durchschnittlich zahlen Eltern zur Einschulung noch mehr, nämlich 180 Euro, die besonders beliebten Ranzen-Modelle, die mit Bildern von Sauriern oder Mondraketen darauf, kosten teilweise mehr als 200 Euro. Freilich könnte man Geld sparen, wenn man alles beim Aldi oder einem anderen Discounter eingekauft hätte, sagt sie entschuldigend. Aber viele Schulen wiederum, und so auch jene ihres Sohnes, teilen den Eltern detailliert mit, welcher Stift, Radiergummi, Spitzer, Malkasten und welche Turnschuhe zu besorgen seien, und so steigen die Ausgaben wieder.

"Ich kriege nicht mal einen Hilfsjob"

Inge Weber ist laut Armutsbericht eine von 177000 Armen in der Stadt, fast 70000 leben von Hartz IV, darunter knapp 19000 Kinder. Die Schule ist ja an sich kostenlos, und doch fallen auch bei armen Kindern oft Summen an, welche die Eltern nicht bezahlen können. Der Verein Einspruch hat für die Grundschule zwischen 250 bis 350 Euro an Kosten pro Jahr ausgerechnet, ohne Essen und ohne Ausflüge. Besonders teuer ist der Schulstart. Im Schnitt werden 550 Euro für das erste Schuljahr angesetzt. Für Frau Weber heißt das: In jedem Monat fehlen ihr nun ein Jahr lang 45,83 Euro. Am meisten Sorge bereitet ihr, dass der Sohn die Armut seiner Eltern ausbaden muss. Und dass sich die Armut, einmal entstanden, verfestigt.

Inzwischen, sagt Inge Weber, würde sie jede Arbeit annehmen, um aus der Armutsspirale herauszukommen. Sogar putzen gehen, obwohl sie eine Allergie gegen Putzmittel habe. "Wenn ich nur wüsste, dass ich damit über die Runden komme." 20 Bewerbungen schreibe sie im Monat. Das verlange auch die Arge. Überall habe sie angefragt: im Supermarkt zum Regale einräumen, als Produktionshelferin, in Callcenter, im Lager. "Aber ich kriege nicht mal einen Hilfsjob", sagt sie und schüttelt den Kopf.

Ihre Erklärung klingt wie eine Rechtfertigung: "Vielleicht weil ich 39 bin oder weil ich sechs Jahre nichts gearbeitet habe. Vielleicht aber auch, weil ich ein Kind habe."

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