Karlsruhe-Urteil:Schlupfloch für Sozialbetrüger

Der Bundesgerichtshof spricht einen Münchner Bauunternehmer frei, weil EU-Recht Vorrang hat. Der Mann hatte ausländische Arbeitnehmer beschäftigt, die nicht in Deutschland versichert waren.

Ekkehard Müller-Jentsch

Unehrliche deutsche Arbeitgeber können die Sozialversicherungspflicht für ausländische Arbeiter mit Hilfe von Scheinverträgen derzeit straflos umgehen: Der Bundesgerichtshof hat festgestellt, dass nach EU-Recht nationale Gerichte hier nicht eingreifen dürfen.

Gesetzbuch, Foto: ddp

Der Bundesgerichtshof hat die Entscheidung des Landgerichts München aufgehoben.

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Deshalb wurde der Geschäftsführer einer Baufirma, die jahrelang in München portugiesische Arbeiter beschäftigte, für diese dort aber keine Sozialversicherungsbeiträge abführte, nun in Karlsruhe freigesprochen.

Um seine Arbeiter der teureren deutschen Sozialversicherungspflicht zu entziehen, hatte Christian F. die Arbeiter pro forma bei portugiesischen Baugesellschaften anstellen lassen. Die portugiesischen Firmen waren zum Schein auch an den Bauaufträgen des deutschen Unternehmens beteiligt - in Wirklichkeit hatten sie aber weder Kontakt zu ihren Arbeitnehmern noch zu den deutschen Bauherren.

Ihre wichtigste Aufgabe war es vielmehr, bei der portugiesischen Sozialbehörde eine Bescheinigung nach dem Entsendegesetz zu besorgen, in EU-Behörden kurz "E-101-Bescheinigung" genannt. Darin wurde bestätigt, dass die Arbeitnehmer nur vorübergehend in Deutschland arbeiten und deshalb in Portugal sozialversicherungspflichtig sind.

Mit diesen Papieren war der Arbeitgeber in München von der deutschen Sozialversicherungspflicht befreit. Ein lohnendes Arrangement: In Portugal kosten die Sozialversicherungsbeiträge kaum halb so viel wie in Deutschland.

Schlupfloch für Sozialbetrüger

Das Landgericht München I hatte Christian F. im Sommer 2005 wegen "Nichtabführens von Sozialversicherungsbeiträgen" zu einer Bewährungsstrafe von 18 Monaten verurteilt. Begründung: Dem deutschen Sozialsystem seien durch die erschlichenen Bescheinigungen in elf Fällen 112132,40 Euro an Beiträgen entgangen.

Weil der Europäische Gerichtshof in Luxemburg inzwischen jedoch entschieden hat, dass alle Mitgliedsstaaten die E-101-Bescheinigungen zwingend anzuerkennen haben, hob der 3. Strafsenat des Bundesgerichtshofs (BGH) die Verurteilung auf.

Vorspiegelung falscher Tatsachen

Diese Bindung gelte nicht nur für die Sozialversicherungsträger des jeweiligen Gastlandes, stellten die Bundesrichter fest, auch deren Gerichte dürften nicht selbstständig überprüfen, ob solche Bescheinigungen womöglich unter Vorspiegelung falscher Tatsachen zu Unrecht ausgestellt worden seien. "Die Bindungswirkung einer E 101-Bescheinigung entfällt auch nicht in Fällen, in denen die Bescheinigung durch Manipulation oder Täuschung erschlichen wurde", sagte das Gericht.

Der Vorsitzende Richter Armin Nack sprach in seiner Urteilsbegründung von einem "Schlupfloch" für Firmen, die sich den höheren deutschen Sozialversicherungsbeiträgen entziehen wollten. Deshalb sei es notwendig, dass sich "der europäische Gesetzgeber dieses Problems annimmt und dafür adäquate Lösungen schafft" (Az.:StR 44/06).

Betrug Tür und Tor geöffnet

Selbst der Münchner Verteidiger von Christian F., Professor Ulrich Ziegert, schließt sich dieser Forderung an. Er meint, die aktuelle Situation lade förmlich zum Missbrauch ein. Zwar hätten sich die bayerischen Sozialversicherungsbehörden bereits mehrmals in Portugal beschwert, doch stets nur zur Antwort erhalten, dass mit den Bescheinigungen alles in Ordnung sei.

Klar, sagt Ziegert, "die Portugiesen kassieren dort doch gerne Beiträge - egal, wo der Versicherte in Wirklichkeit arbeitet". Auch Bayerns Sozialministerin Christa Stewens mahnt politische Aktivitäten an: "Es kann nicht sein, dass die Erschleichung einer E-101-Bescheinigung die Anwendung des deutschen Sozialversicherungsrechts entfallen lässt." Damit sei Betrug Tür und Tor geöffnet und der rechtstreue Arbeitgeber wäre der Dumme. "Eine Änderung der europäischen Rechtslage ist deshalb zwingend erforderlich."

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