Juristische Aufarbeitung:Aktenordner voller Sprachlosigkeit

Trauer um die Opfer am Jahrestag des Amoklaufs im OEZ in München, 2017

Ein Denkmal für die Opfer: Am ersten Jahrestag des sogenannten Amoklaufs im Olympia-Einkaufszentrum gedachten Münchner Bürger der Ermordeten.

(Foto: Johannes Simon)

Der Prozess gegen den Mann, der die Pistole für den Anschlag am OEZ lieferte, ist eine Tortur für die Angehörigen der Opfer

Von Martin Bernstein

Es ist ein Prozess, in dem zu viel Unvereinbares aufeinandertrifft. Nach 18 Prozesstagen gegen den Waffenhändler Philipp K. ist das bereits deutlich. Auch wenn weitere Termine für die nächsten Wochen schon terminiert sind. Was ist Gerechtigkeit? Was ist Wahrheit? Und wie spricht man darüber unter all dem Schmerz und zwischen den vielen Paragrafen und mit einem Angeklagten, der nicht spricht? Neun Menschen, die meisten Kinder oder Jugendliche, sind tot, erschossen binnen weniger Minuten am Abend des 22. Juli 2016 mit einer Pistole vom Typ Glock 17. Erschossen von dem rechtsradikalen, psychisch kranken David S., einem 18-jährigen Münchner, dessen Eltern Einwanderer waren, ebenso wie die Familien fast aller seiner Opfer. Auch der Attentäter ist tot.

Viele Aktenbände sind inzwischen zusammengekommen. Dokumente der Sprachlosigkeit. Wie der vorerst letzte Protokolleintrag. Eigentlich sind in diesem Moment nur noch ein paar Formalien abzuhandeln, dann soll es in die Weihnachtsferien gehen. Aber gibt es Formalien, wenn es um tote Kinder geht? Deren Eltern und Geschwister, Onkel, Tanten und Großeltern sitzen wie an jedem Tag im Saal des Justizpalastes. Vorsitzender Richter Frank Zimmer hat gerade die Mittagspause verkündet. Zuvor aber hat er sich zu einem Antrag der Opferanwälte geäußert. Die wollten, dass der Extremismus-Forscher Matthias Quent aus Jena als Sachverständiger gehört werden soll zur Frage, warum der angebliche "Amoklauf" in Wahrheit ein rassistisch motiviertes Hassverbrechen war, ein Anschlag also. Das Gericht lehnt den Antrag ab. So ein Gutachten sei strafrechtlich nicht relevant. Und die Kammer habe genügend "eigene Sachkunde". So heißt das im Juristendeutsch. Eine politische Bewertung würde den Rahmen der Strafprozessordnung überschreiten, sagt Zimmer. Dann wendet er sich an die Nebenkläger. Er verstehe deren Anliegen, sagt er, es sei "nachvollziehbar". Da springt Engin K. auf. 15 Jahre alt war sein Sohn Selcuk, als David S. ihn im McDonald's an der Hanauer Straße mit sechs Schüssen aus nächster Nähe ermordete. Selcuk wird nie wieder Geburtstag feiern. Und der Todesschütze sitzt nicht vor Gericht. Doch der, der die Waffe geliefert hat, sitzt vor Gericht - und hat am 9. Januar seinen 33. Geburtstag, einen Tag, bevor der Prozess weitergeht. Engin K. schreit seine Verzweiflung hinaus, schreit den Richter an. Freunde und ein Anwalt versuchen ihn zu beruhigen.

Nach der Mittagspause sagt Richter Zimmer, so etwas könne er nicht tolerieren. Dann spricht er Engin K. persönlich an: "Ich verstehe Ihre große Trauer." Er werde auf Ordnungsmaßnahmen noch einmal verzichten. K. steht auf, verlässt den Saal, er schreit diesmal nicht. Er sagt, nicht trotzig, sondern traurig, ganz leise: "Danke." Richter Zimmer hört es. Und er diktiert ins Protokoll, was bei ihm angekommen ist: "Beim Hinausgehen sagt Herr K.: Dankeschön. Rufzeichen!"

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