Junger Lesefuchs:Ein Rekord fürs Leben

Die acht Jahre alte Pranavi nennt zehn Teilnahmekarten mit 100 Stempeln ihr eigen. Damit ist die eifrige Zuhörerin der "Lesefüchse" die Rekordhalterin in der Giesinger Bibliothek

Von Helena Ott

Die Hände hat Pranavi Theivapalan im Schoß gefaltet, die Achtjährige sitzt aufrecht und konzentriert sich abwechselnd auf die Lippen von Brigitte Ehrhardt und das Bilderbuch, das die Rentnerin hält. Sieben Kinder sind zur Vorlesestunde der ehrenamtlichen "Lesefüchse" in die Stadtteilbibliothek Giesing gekommen; vier weitere Kinder zur Lesestunde für die Kleineren. Brigitte Ehrhardt, eine von 300 freiwilligen Vorlesern, liest aus dem Bilderbuch "Pippilothek?", in dem ein raffgieriger Fuchs, der zunächst nur auf Maus- und Hühnchenfleisch aus ist, auf den Geschmack von Büchern kommt.

Brigitte Erhardt schaut des öfteren über den Buchrand und fragt, wer wisse, was eine Scholle oder ein Kabeljau sei. Mit ihren Zwischenfragen vergewissern sich die Lesefüchse, ob die Kinder den Geschichten folgen können, denn: Viele kommen aus anderen Teilen der Welt oder haben ausländische Eltern. Das gilt auch für Pranavi: "Selbst wenn sie am Anfang noch nicht alles verstanden hat, hat sie immer aufmerksam zugehört und mitgemacht."

Heidrun Langer, Teamleiterin der Giesinger Lesefüchse und Astrologin in Ruhestand, kennt Pranavi, seit sie drei Jahre alt ist - so lange kommt das Mädchen an jedem Dienstag zu den Vorlesestunden. "Wegen den lustigen Geschichten", begründet die Achtjährige, warum sie sich selbst bei Regen auf den Weg in die Bibliothek macht. Meistens bringt sie ihre Mutter Ahila Theivapalan bis zum Eingang.

Und jetzt hat es Pranavi geschafft - zehn grüne Lesekarten voller Stempel. Stolz hält das Mädchen die Karten wie einen Fächer, mit den 100 Stempeln ist sie Rekordhalterin der Giesinger Bibliothek. Es sind Herzen, kleine Bären, vereinzelt Weihnachtsbäume. Man sieht den grünen Karten an, dass sie in fünf Jahren viel durchgemacht haben: Die Schrift ist ausgeblichen, das Papier geknickt, ein paar Risse sind mit Klebestreifen geflickt.

Als Belohnung hat sie eine Urkunde, auf der alle Giesinger Lesefüchse unterschrieben haben, und "ABC-Gesichten zum Erleben"geschenkt bekommen - ein Bilderbuch mit viel Text zum Lesen. "Für die Kinder soll das ein Anreiz sein, auch selbst Bücher zu lesen", erklärt Heidrun Langer. Pranavi ist jetzt nicht mehr aufs Vorlesen angewiesen, sie geht bereits in die zweite Klasse der Ichoschule. "Zuhause haben wir mehr als 150 Bücher", erzählt ihr 16 Jahre alter Bruder Juren, der früher auch bei den Lesefüchsen war. Der Vater, 1985 vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka nach Deutschland geflohen, ist stolz auf seine Tochter: "Pranavi liest mir viel aus ihren Büchern oder denen vor, die sie hier ausgeliehen hat", freut sich Nalliah Theivapalan. Er ist sehr froh über das Angebot der Lesefüchse und hat mit seiner Frau viel dafür getan, dass die beiden Kinder von Anfang an perfektes Deutsch lernen. "Die Ehrenamtlichen machen tolle Arbeit und haben ein großes Herz", lobt er Heidrun Langer und ihr Team. Die meisten Lesefüchse sind Rentner, die ihre Zeit am Nachmittag dafür nutzen, den Kindern vorzulesen und ihnen dabei auch ein Stück die Welt erklären: "Wenn nach der Flut die Ebbe kommt, dann bleiben oft Sachen am Strand zurück, das nennt man Strandgut", erklärt Brigitte Erhardt, als sie die Geschichte des schwedischen Mädchens Stina und eines Sturms vorliest. Pranavi lächelt beim Blick auf die Bilder des Buches - zum Beispiel das Miniatur-Schränkchen, das Stina aus einer an den Strand gespülten Schublade gebaut hat.

Während die anderen Kinder zeitweise auf den grauen und grünen Schaumstoffsitzen hin- und herrutschen, kurz rangeln und auch mal dazwischenrufen, sitzt Pranavi mucksmäuschenstill auf dem Hocker und reckt den Kopf, um einen Blick auf die Bilder werfen zu können. "Besonders bei den Fragen ist Pranavi immer supergut", sagt Heidrun Langer. Sie kommt gerade vom Lesefest der Lesefüchse, denn auch der Vorleseverein feiert ein Jubiläum - zum zehnten Mal findet das jährliche Vorlesen in besonderer Umgebung statt, dieses Mal im Verkehrszentrum des Deutschen Museums auf der Schwanthalerhöhe.

Wenn Pranavi groß ist, will sie Erzieherin oder Lehrerin werden. "Auf jeden Fall etwas mit Kindern", bekräftigt die Achtjährige. Ihr Vater wünscht sich, dass Pranavi irgendwann einmal studieren kann. Den Spaß am Lesen, eine wichtige Voraussetzung für die meisten Studiengänge, bringt die Schülerin jedenfalls jetzt schon mit.

Und dann zeigt sie circa zwei Zentimeter zwischen Daumen und Zeigefinger - soviel misst das dickste Buch, das sie bisher gelesen hat.

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