Jugendliche Flüchtlinge in der Heßstraße:Ankommen

Sie haben Tausende Kilometer hinter sich, monatelange Irrungen - und nun sind sie ganz allein: In einem Haus in der Heßstraße finden jugendliche Flüchtlinge erstmals das Gefühl von Zuhause. Wie der 18-jährige Stephen.

Anne Goebel

Das Porträt von Nelson Mandela an der Wand ist nur zur Hälfte fertig. Die Umrisse des Kopfes sind da, der lachende Mund, die schmalen Augen, aber Farbe ist nur wenig aufgetragen, ganz so, als habe der Maler hastig den Pinsel weglegen müssen. Im Fall von Stephen Camara (Name geändert) war es keine Eile.

Jugendliche Flüchtlinge in der Heßstraße: In ihrem neuen Leben zurechtfinden müssen sich die oft völlig verängstigten Jugendlichen allein. Zum Beispiel der 18-jährige Stephen.

In ihrem neuen Leben zurechtfinden müssen sich die oft völlig verängstigten Jugendlichen allein. Zum Beispiel der 18-jährige Stephen.

Es ist eher so, dass der 18-Jährige zu viel Zeit hat. Beim Malen, beim Musikhören in seinem Zimmer, wenn er sich etwas zu essen macht an dem schäbigen Herd im ersten Stock: Stunden und Minuten lassen sich kaum unterscheiden, zerfließen zu einem zähen Ganzen, das ihn manchmal lähmt wie ein Gewicht an den Beinen. Das geht seit mehr als einem Jahr so, und in den schlimmsten Momenten wäre Stephen froh, wenn er wenigstens noch Widerstand gegen die Gewichte aufbringen könnte. "I'm just moving", beschreibt er solche Tage. Dann bewegt er sich wie automatisch, ein Fremder im eigenen Körper. Dass diese Tage seltener werden, ist ein Erfolg, an den er bis vor ein paar Monaten nicht geglaubt hätte. Heßstraße 35, Wohnprojekt Sozialreferat. Hinter der nüchternen Bezeichnung verbergen sich 13 Räume auf zwei Etagen, die gerade mit dem Nötigsten eingerichtet sind. Aber für 14 Jugendliche ist die Adresse ein Synonym für Sicherheit, für das erste Gefühl von Zuhause nach manchmal monatelangen Wirrungen. Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge heißen im Behördendeutsch Jugendliche, die ohne Eltern oder andere Erwachsene aus ihrer Heimat fliehen mussten. In der Hoffnung auf ein besseres Leben schlagen sie sich durch zum gelobten Wunderland Europa, am besten bis nach Deutschland - und werden hier häufig von der Polizei aufgegriffen. Orientierungslos, sprachlos, mittellos", sagt Helmut Stoll, der Migrationsreferent des Diakonischen Werkes Bayern. Stoll hat im vergangenen November eine Tagung zur Situation unbegleiteter Flüchtlingskinder organisiert, weil die Zahlen dramatisch steigen. 2010 kamen 701 jugendliche Flüchtlinge nach Bayern, im Jahr davor waren es erst weniger als halb so viele gewesen.

Vor allem aufgrund der "völlig desolaten Lage" in Krisengebieten wie Afghanistan, Irak, Somalia wüssten sich viele Familien nicht anders zu helfen, als die Kinder auf eine ungewisse Reise zu schicken, sagt er. Wenn die Eltern denn überhaupt noch lebten. Experten wie Stoll oder die Mitarbeiter des "Fachverbands Unbegleitete Minderjährige Flüchtlinge" machen deutlich, wie wichtig für einen traumatisierten 12- oder 14-Jährigen eine möglichst rasche Betreuung ist. "Diese Jugendlichen sind besonders verletzlich. Ihnen muss unsere besondere Fürsorge gelten", sagt Stoll.

Trotzdem werden die oft völlig verängstigten Flüchtlinge in München nicht selten monatelang in der sogenannten Erstaufnahme-Einrichtung an der Baierbrunner Straße untergebracht. Neben bürokratischen Maßnahmen wie Vormundschaft oder Asylantrag ist die beengte, oft chaotische Wohnsituation in der ehemaligen Kaserne für die Jugendlichen belastend. Deshalb ist die Heßstraße 35 ein Ort der Hoffnung. Und die Bewohner, sagt die Leiterin Bärbel Preuss, können ihr Glück oft gar nicht fassen. Die 45-Jährige war von Anfang an dabei, als vor acht Jahren das Gemeinschaftsprojekt des Stadtjugendamts und des Amts für Wohnen und Migration ins Leben gerufen wurde. Eine Unterkunft für Minderjährige, in der die Flüchtlinge bei existenziellen Dingen unterstützt werden: Schulbesuch, Deutschkurse, therapeutische Möglichkeiten.

Vier Sozialpädagogen kümmern sich um die Betroffenen. "Das Haus ist für viele die erste Heimat nach einer langen Reise", sagt Bärbel Preuss. Und auch, dass sie viel zu viele Anfragen habe für die wenigen Plätze. Die Mittel sind knapp bemessen, neue Möbel oder Teppiche für die sparsam eingerichteten Mehrbettzimmer täten not. Vor allem aber, so Preuss, wird dringend Geld für juristischen Beistand gebraucht. "Ohne Hilfe eines Anwalts wären viele von der Abschiebung bedroht, auch wenn sie offensichtlich traumatisiert sind" - was eine Abschiebung eigentlich verhindern müsste. Man merkt diesem Ort nicht an, welche Erleichterung viele hier empfinden, und das hat nicht nur mit der kargen Einrichtung zu tun. Mit den abgewetzten Sofas, der spartanischen Gemeinschaftsküche, den nackten Wänden.

Es sind vor allem die erschütternden Erlebnisse der jungen Bewohner, die wie ein unsichtbarer Schatten über allem liegen. Gerade dann, wenn nicht offen über die Vergangenheit gesprochen wird, und das ist bei den meisten der Fall. Die Angst ist zu groß. Fast alle leiden unter Panikattacken, Schlafstörungen, Depressionen. Sie heißen Mustafe oder Saidu, sie sind ehemalige Kindersoldaten, haben ihre Eltern im Krieg verloren oder sind Opfer sexueller Gewalt geworden. Sportliche Aktivitäten, sagt Bärbel Preuss, und vor allem der Unterricht begeistere ihre Schützlinge, weil er sie ablenke von quälenden Erinnerungen. Schule bedeutet Zukunft, und etwas so Simples wie ein Stundenplan gibt den Jugendlichen Halt in einer Umgebung, die auch nach Monaten noch fremd ist.

Stephen Camara, der Mandela-Maler, kommt langsam zur Ruhe, seit er in der Heßstraße wohnt. An guten Tagen geht er Fußball spielen und träumt von der Kunstakademie. Noch ist nicht gerichtlich entschieden, ob er in Deutschland bleiben kann. Aber allein die Vorstellung bringt sein Gesicht zum Strahlen. Für ein paar Momente sieht Stephen nach dem aus, was er sein könnte. Ein Junge von 18 Jahren, der das Leben noch vor sich hat.

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