Jugendgewalt in München:"Jeder ist verpflichtet einzugreifen"

Nach der Prügelattacke in Solln: Stefan Ther von der Münchner Polizei über das Vermindern von Jugendgewalt und den Nutzen von Video-Überwachung.

Sarina Pfauth

Stefan Ther ist bei der Münchner Polizei zuständig für verhaltensorientierte Prävention, unter anderem ist er verantwortlich für die Multiplikatoren-Ausbildung des Präventionsprogramms "zammgrauft". Der Kurs, an dem schon Tausende Münchner Schüler teilgenommen haben, soll für Gewalt und für die Opfer sensibilisieren und zur Zivilcourage ermutigen. "zammgrauft" richtet sich an Schüler zwischen zwölf und 18 Jahren.

Jugendgewalt in München: Blumen am Tatort: Am S-Bahnhof in Solln wurde ein 50-jähriger Mann von zwei jungen Männern so schwer verletzt, dass er wenig später starb. Er hatte versucht, vier Teenager zu schützen.

Blumen am Tatort: Am S-Bahnhof in Solln wurde ein 50-jähriger Mann von zwei jungen Männern so schwer verletzt, dass er wenig später starb. Er hatte versucht, vier Teenager zu schützen.

(Foto: Foto: ddp)

sueddeutsche.de: Am Samstag wurde ein 50-jähriger Geschäftsmann von zwei Jugendlichen totgeprügelt - weil er vier Kinder geschützt hatte, die von den Tätern erpresst wurden. Sie sind in der Gewaltprävention in München tätig - verliert man den Mut weiterzumachen, wenn man eine solche Nachricht hört?

Stefan Ther: Nein, man darf sich nicht entmutigen lassen. Leider gibt es solche Fälle. Aber wir wissen auch, dass es andere Fälle gibt, in denen die Prävention wirkt. Wir stecken nicht den Kopf in den Sand.

sueddeutsche.de: Wie versuchen Sie mit "zammgrauft", Jugendgewalt zu vermindern?

Ther: Die Schüler hören nicht einen Vortrag, sondern sie erleben etwas. Das Programm besteht aus Rollenspielen und praktischen Verhaltensübungen. Es geht zum Beispiel um das Thema Mobbing: Da wird eine Situation nachgestellt, bei der die Schüler als Opfer erleben, welche Gefühle entstehen. Dadurch können sie lernen, welche Auswirkungen Gewalt hat. Ziel jeder Übung ist, dass Vereinbarungen für den Alltag getroffen werden.

sueddeutsche.de: Was bringt die Prävention?

Ther: Das Projekt wurde vom Lehrstuhl für Sozialpsychologie der Ludwig-Maximilians-Universität begleitet. Die Wissenschaftler konnten eindeutig feststellen: Ja, die Kurse bewirken etwas. Jugendliche, die vorher schon bereit waren, couragiert zu helfen, fühlen sich danach sicherer. Sie wissen, wie man sich in Gewaltsituationen verhält und welche Möglichkeiten man hat, zu helfen. Andere, die vorher eher Angst hatten oder unsicher waren, werden durch "zammgrauft" darin bestärkt, dass es wichtig ist, zu helfen.

sueddeutsche.de: Was raten Sie den Jugendlichen in Ihren Seminaren: Eingreifen oder nicht ?

Ther: Jedermann ist gewissermaßen verpflichtet, im Rahmen seiner Möglichkeiten einzugreifen. Das heißt nicht, dass ich mich selbst in Gefahr begeben muss, aber einen Notruf abzusetzen oder andere auf die Situation aufmerksam zu machen, ist in fast allen Fällen gefahrlos möglich.

sueddeutsche.de: Wie viele Schüler werden durch Präventionsprogramme in München erreicht?

Ther: Tausende Schüler wurden schon erreicht. Wir haben bislang in München knapp 1600 Multiplikatoren ausgebildet - Lehrer, Sozialpädagogen und Jugendbeamte der Polizei, die "zammgrauft" in den Klassen umsetzen. Die Kurse werden an Schulen und in Jugendzentren durchgeführt. Es ist wichtig, das in der Gruppe zu machen, weil Gewalt dort vorkommt und weil für Zivilcourage Gemeinschaft wichtig ist.

Lesen Sie weiter: Eine Antwort auf die Frage, ob es früher auch schon solche unkontrollierten Gewaltausbrüche gab, bei denen Passanten totgeprügelt werden.

"Videoüberwachung und höhere Haftstrafen allein bringen nichts"

sueddeutsche.de: Die U-Bahn-Schläger, der Überfall am Sendlinger Tor, die Prügelattacke in Solln: Nimmt die Jugendgewalt in München zu?

Jugendgewalt in München: Stefan Ther ist bei der Münchner Polizei zuständig für verhaltensorientierte Prävention, insbesondere für die Ausbildung von Multiplikatoren für "zammgrauft", "aufgschaut" (einem Gewaltpräventionskurs für Grundschüler) und "sauba bleim - Suchtprävention".

Stefan Ther ist bei der Münchner Polizei zuständig für verhaltensorientierte Prävention, insbesondere für die Ausbildung von Multiplikatoren für "zammgrauft", "aufgschaut" (einem Gewaltpräventionskurs für Grundschüler) und "sauba bleim - Suchtprävention".

(Foto: Foto: oh)

Ther: Der Eindruck, dass es mehr Jugendgewalt gibt, ist subjektiv - Tatsache ist, dass die Zahl stagniert, sogar eher rückläufig ist. Was gestiegen ist, ist die Bereitschaft, bei Straftaten Anzeige zu erstatten

sueddeutsche.de: Aber gab es früher auch schon solche unkontrollierten Gewaltausbrüche, bei denen Passanten totgeprügelt werden?

Ther: Gewaltausbrüche gab es schon immer, sie sind kein neues Phänomen. Aber die Umstände im aktuellen Fall heben sich schon deutlich ab von den anderen Taten. Es ist zum Beispiel äußerst selten, dass Jugendliche einen Erwachsenen angehen.

sueddeutsche.de: Warum wurde das Präventionsprogramm 2001 in München eingeführt?

Ther: Man hat damals festgestellt, dass die Jugendgewalt im Bereich des Polizeipräsidiums München zugenommen hat. Wir haben uns gefragt: Was sind die Ursachen davon und wie können wir dem begegnen? Damals wurde die Präventionsdienststelle neu geschaffen; eine der ersten Aufgaben war es, ein Konzept zu finden, wie man Jugendgewalt eindämmen kann. Es wurde in Deutschland und auch weltweit recherchiert, welche Möglichkeiten es zur Gewaltprävention gibt. Man hat dann ein Konzept aus Dortmund übernommen und für München überarbeitet.

sueddeutsche.de: Die Politik fordert mehr Videoüberwachung in öffentlichen Verkehrsmitteln. Halten Sie das für die richtige Lösung oder würden Sie das Geld lieber in andere Projekte stecken?

Ther: Natürlich ist Videoüberwachung wichtig. Aber das bekämpft ja nicht die Ursachen. Man bekommt die Tat mit und hat Ermittlungsansätze. Und man setzt auf die präventive Wirkung, dass sich Täter davon beeindrucken lassen - aber dass es solche Vorfälle immer verhindert, bezweifle ich.

sueddeutsche.de: Abgesehen von Präventionsprogrammen wie "zammgrauft" - was könnte man tun, damit es nicht so weit kommt?

Ther: Man sollte mit straffälligen Jugendlichen ihre Taten besser aufarbeiten. Da bestünden sicherlich mehr Möglichkeiten. Natürlich muss man die Bevölkerung schützen - aber Videoüberwachung und höhere Haftstrafen allein bringen da nichts.

sueddeutsche.de: Sondern?

Ther: Wir sind früher zum Beispiel zu Jugendlichen ins Gefängnis gegangen, die zu einem Dauerarrest veruteilt worden sind. Für sie gibt es relativ wenig Ansprechpartner - die sitzen halt ihre Zeit ab. Aber man muss mit ihnen über die Tat sprechen, nach den Ursachen forschen und prüfen, ob der Jugendliche etwas gelernt hat oder es wieder so machen würde. Es gibt definitiv Potential, so etwas psychologisch besser aufzuarbeiten.

sueddeutsche.de: Was macht die Jugendlichen so aggressiv?

Ther: Es gibt immer mehrere Ursachen und Faktoren, die einen Jugendlichen beeinflussen - Familie, Erziehung, Freundeskreis, falscher Medienkonsum. In Zusammenhang mit Gewalttaten spielt auch gerade bei Jugendlichen der Alkohol eine wesentliche Rolle. Ob dies im aktuellen Fall auch zutrifft, kann ich nicht sagen.

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