Jubiläum:125 Jahre IG Metall: Kämpfen für ein gutes Leben

Jubiläum: Seit seiner Gründung zum Ende des 19. Jahrhunderts wirbt der Metallarbeiterverband für sein Verbandsorgan, die Metallarbeiter-Zeitung.

Seit seiner Gründung zum Ende des 19. Jahrhunderts wirbt der Metallarbeiterverband für sein Verbandsorgan, die Metallarbeiter-Zeitung.

(Foto: IG Metall Zentralarchiv)
  • Vor 125 Jahren wurde im Wirtshaus "Neue Welt" an der Blumenstraße der Münchner Ableger des Deutschen Metallarbeiter-Verbands gegründet.
  • Später entstand daraus die IG Metall, die heute in der Stadt mehr als 43000 Mitglieder hat.
  • Inzwischen engagieren sich viele junge Leute bei der Gewerkschaft.

Von Wolfgang Görl

Es ist die sogenannte Prinzregentenzeit, die bayerische Belle Époque, die mit der Regentschaft Prinz Luitpolds von Bayern im Juni 1886 beginnt und mit dessen Tod am 12. Dezember 1912 endet. In die kollektive Erinnerung hat sich ein verklärtes Bild dieser Ära eingebrannt, demzufolge die Bewohner des Landes damals ein gemütliches, ja geradezu bukolisches Leben genossen.

Die Wirklichkeit sieht anders aus. Viele Menschen auf dem Land sehen sich gezwungen, mangels Perspektiven in die Städte abzuwandern, wo es Arbeit gibt, wenngleich diese Arbeit in den prosperierenden bayerischen Fabriken hart ist, und es so gut wie keine soziale Absicherung gibt. Auch in München, der ehedem behäbigen Residenzstadt, schreitet die Industrialisierung im Laufe des 19. Jahrhunderts voran, es entstehen technisch hochgerüstete Produktionsstätten wie die Lokomotivenfabriken von Joseph Anton Maffei und Georg Krauss, die Waggonfabrik Rathgeber oder die Maschinenfabrik Ungerer am Mühlbach.

Die Arbeiter aber sind der Willkür der Fabrikanten weitgehend schutzlos ausgesetzt, und auch das Leben nach Feierabend ist in überfüllten und feuchten Mietskasernen oder Herbergen alles andere als gemütlich.

Unter dem Pflaster des prinzregentlich leuchtenden Münchens lagern soziale Konfliktstoffe, und in dieser Situation lädt der Zinngießer Ludwig Klingseisen am 18. Juli 1891 rund 160 Metallarbeiter zur Versammlung ins Wirtshaus "Neue Welt" in der Blumenstraße. Klingseisens Kollegen sind in den Vereinen der Spengler, Schlosser, Former und Feilenhauer organisiert, die fortan unter einem Dach für ihre Interessen kämpfen wollen.

Zu diesem Zweck gründen sie die "Verwaltungsstelle München" des "Deutschen Metallarbeiter-Verbands" (DMV). Dies ist möglich, weil der Reichstag Anfang 1890 das seit zwölf Jahren geltende Sozialistengesetz aufgehoben hat, das unter anderem die Gewerkschaften verbot. Kaum war das Verbot gefallen, gründeten Metallarbeiter in Frankfurt den DMV, die Vorgängerorganisation der IG Metall.

Obwohl das Sozialistengesetz außer Kraft ist, beobachtet die Polizei argwöhnisch das Treiben der Metaller. Auch bei der Gründungsversammlung in der "Neuen Welt" ist ein Polizeispitzel dabei, der einen ausführlichen Bericht über die mutmaßlich subversive Zusammenkunft verfasst. Den Arbeitern, so sieht es die herrschende Schicht im Kaiserreich, ist generell nicht zu trauen, sie gelten als Aufrührer und Umstürzler.

Mehrmals erklärt die Obrigkeit den Metallarbeiter-Verband zum politischen Verband und löst ihn auf. Dass die bayerischen Behörden besonders diensteifrig sind, wenn es darum geht, die Aktivisten der Arbeiterbewegung zu drangsalieren, ist einer Chronik zu entnehmen, welche die IG Metall München zum 125. Gründungstag herausgegeben hat. Darin wird der Spengler Josef Urban (1854-1926) zitiert, der erste Bevollmächtigte der Verwaltungsstelle Bayern: "In Preußen kann man Kritik üben, in Bayern nicht."

Nach diversen internen Querelen konsolidiert sich der Verband allmählich, und 1899 sind die Münchner Metallgewerkschafter so weit, für zwölf Mark Monatsmiete ein Büro in einem städtischen Gebäude auf der Kohleninsel, der heutigen Museumsinsel, zu beziehen. Als Hans Ischinger (1872-1925) zur Jahrhundertwende zum hauptamtlichen Geschäftsführer gewählt wird, brechen alte Rivalitäten wieder auf. Die Spengler und Siebmacher sind sauer, dass ihre Kandidaten das Nachsehen hatten, und verlassen demonstrativ den Versammlungssaal.

Auch heute müssen die Lebensbedingungen verbessert werden

Starnberg Museum Starnberger See

Ein weiterer Großbetrieb, aus dem viele Metallarbeiter in den Verband strömten war die Lokomotivfabrik von Krauss (Gemälde von Friedrich Perlberg).

(Foto: Georgine Treybal)

Dessen ungeachtet geht der Kampf des Metallarbeiter-Verbands weiter. Vor allem geht es darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen zu verbessern. Dazu zählt eine kürzere Arbeitszeit, wobei es um 1900 schon ein Erfolg ist, die 57-Stunden-Woche bei gleichem Lohn erstritten zu haben. Auch die "Unterstützung bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, auf Wanderschaft, bei Wohnortswechsel und Todesfall" steht im Forderungskatalog der Metaller.

Den ersten großen Arbeitskampf führen sie 1905. Es geht um einen Tarifvertrag, der höhere Löhne, geringere Arbeitszeiten und bessere Arbeitsbedingungen festschreibt, was auf erbitterten Widerstand der Arbeitgeber stößt. Im April treten die Arbeiter von Maffei, Rathgeber und der Maschinenfabrik J.G. Landes in den Streik, dem sich in den folgenden Wochen die Maschinenarbeiter von MAN in Nürnberg anschließen. Die Fabrikanten reagieren mit Aussperrungen, der Arbeitskampf eskaliert weiter. Ende Juni stehen 22 000 Arbeiter in Bayern vor verschlossenen Werkstoren. Über die Kompromisslosigkeit der Unternehmer klagt der langjährige DMV-Vorsitzende Alexander Schlicke (1864-1940): "Hier in München saßen die Scharfmacher, die den Aussperrungsgedanken verwirklichten und die auf eine Vereinbarung mit den Arbeitern nicht eingehen wollten."

Was die zentralen Themen der Metaller betrifft, hat sich bis heute "nicht viel verändert", sagt Horst Lischka, der Erste Bevollmächtigte der Münchner IG-Metall. Nach wie vor gehe es darum, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Menschen zu verbessern, und wie vor 125 Jahren bedeutet dies: Gerechte Löhne, erträgliche Arbeitszeiten, sichere Arbeitsplätze, human gestaltete Arbeit. Geändert hat sich freilich die Ausgangslage, die 57-Stunden-Woche etwa ist längst passé, und mit Hungerlöhnen müssen sich die meist hochqualifizierten Metaller in der Regel auch nicht herumschlagen. "Damals ging es ums Überleben", sagt Lischka. "Heute geht es ums gute Leben."

Was das heißt in einer Zeit, in der die digitale Technik zunehmend das Leben der Menschen prägt und bis in die letzten privaten Winkel vordringt, erläutert Alexander Farrenkopf, Betriebsrat und Leiter der IG-Metall-Vertrauensleute bei BMW. Bei einem hypermodernen Unternehmen wie dem Münchner Autobauer lässt sich die Arbeitszeit nicht durchweg mit der Stechuhr messen, auch der Arbeitsplatz befindet sich nicht zwangsläufig im Werk oder Büro.

Da ist der Ingenieur, der zu Hause oder im Zugabteil am Laptop weiter frickelt; da sind Mitarbeiter, die am Feierabend rasch noch mal dienstliche E-Mails versenden, da sind Angestellte, die am freien Tag im Biergarten per Smartphone Anweisungen erteilen oder entgegennehmen - allesamt zusätzliche Tätigkeiten, die Vorgesetzte häufig erwarten, aber bitteschön gratis. Um diesen Auswüchsen der mobilen Arbeit einen Riegel vorzuschieben, hat der BMW-Betriebsrat eine Betriebsvereinbarung ausgehandelt, die unter dem Motto "Flexibel arbeiten - bewusst abschalten" steht.

Die Regeln der neuen Arbeitswelt angepasst

Die Regelung, erklärt Farrenkopf, folgt zwei Prinzipien: "Alles, was an Arbeit geleistet wird, egal wo, wird auch als Arbeitszeit erfasst." Und zweitens: "Es gibt ein Recht, außerhalb der üblichen Arbeitszeit nicht erreichbar zu sein." Mit anderen Worten: Wer sein Handy am Feierabend abschaltet, hat nichts zu befürchten.

Jubiläum: Heute kann die Münchner IG Metall steigende Mitgliederzahlen verzeichnen. Schon längst ist die Metallarbeitergewerkschaft nicht mehr reine Männerdomäne.

Heute kann die Münchner IG Metall steigende Mitgliederzahlen verzeichnen. Schon längst ist die Metallarbeitergewerkschaft nicht mehr reine Männerdomäne.

(Foto: Hess)

Von solchen Errungenschaften ist man beim Allacher Technologieunternehmen Krauss-Maffei, wo Maschinen zur Kunststoff-Verarbeitung hergestellt werden, noch weit entfernt. Der Betriebsratsvorsitzende Peter Krahl hatte in den vergangenen Jahren ganz andere Sorgen. Drei Mal wechselte innerhalb eines Jahrzehnts der Investor. "Es gab eine massive Bedrohung der Arbeitsplätze", sagt Krahl, der auch dem Münchner IG-Metall-Vorstand angehört. Dies zu verhindern, war die vordringlichste Aufgabe des Gewerkschafters.

Zähe Verhandlungen waren da zu führen, die einer Sisyphus-Arbeit glichen, wenn ständig die Gesprächspartner wechseln. Doch die Mühe hat sich gelohnt. "Die Beschäftigtenzahl ist stabil geblieben, seit 2010 haben wir keine Kündigungen." Ohne Zugeständnisse ging das allerdings nicht. Auf Lohnerhöhungen muss die Belegschaft über mehrere Jahre verzichten, ein Teil des ersparten Geldes fließt dafür in Investitionen, die langfristig Arbeitsplätze sichern sollen.

Die Existenz steht auf dem Spiel

Jubiläum: Horst Lischka, der Erste Bevollmächtigte der Münchner IG Metall: "Heute geht es ums gute Leben."

Horst Lischka, der Erste Bevollmächtigte der Münchner IG Metall: "Heute geht es ums gute Leben."

(Foto: Jørgensen)

In solchen Fällen steht nicht nur das gute Leben auf der Kippe, sondern generell die materielle Existenz. Dennoch ist da und dort der Vorwurf zu hören, Gewerkschaften wie die IG Metall kümmerten sich nur um ihre Leute, die meist gut bezahlten Facharbeiter, während sie die Arbeitslosen und jene, die in schlecht bezahlten Jobs gerade mal das Existenzminimum verdienten, im Stich ließen. War es nicht immer die Vision der Arbeiterbewegung, eine Gesellschaft zu schaffen, in der niemand materielle Ängste haben muss? Stimmt schon, signalisiert Lischka, aber er sieht darin keinen Widerspruch zur aktuellen Strategie der IG Metall.

Gewiss, ihr geht es vorrangig um die Mitglieder und die Beschäftigten in den Betrieben. Genau deshalb aber treten die Leute in die Gewerkschaft ein, in den vergangenen acht Jahren verzeichnete die Münchner IG Metall einen Zuwachs von 6500 Mitgliedern. Daraus, so Lischka, erwächst Stärke, und die befähigt, sich auch um andere zu kümmern - etwa um die Leiharbeiter, die in der Regel für sehr viel weniger Geld arbeiten. "Auch Werkverträge sind ein Thema für uns", fügt Lischka hinzu. Allzu häufig dienten sie nur dazu, Tarifverträge zu unterlaufen. "Wir wollen unseren gesellschaftlichen Anspruch nicht aufgeben, aber das geht nur über die Arbeit in den Betrieben."

Von Anfang an waren die Metaller selbstbewusste und kämpferische Typen. Ende Januar 1918 solidarisieren sich die Arbeiter der Münchner Rüstungsbetriebe - gegen den Willen der Gewerkschaften - mit den Kriegsgegnern, die überall im Deutschen Reich für den Frieden in Streik treten. Die Beschäftigten des Krupp-Werks in Freimann legen als Erste die Arbeit nieder, die Belegschaften der übrigen Waffenschmieden folgen. Doch nach wenigen Tagen bricht der Streik zusammen, nicht zuletzt, weil die Anführer, unter ihnen der Münchner USPD-Vorsitzende Kurt Eisner, verhaftet werden.

Die Errungenschaften der Novemberrevolution 1918, etwa der Acht-Stunden-Tag, gehen in den Zwanzigerjahren, in denen Bayern zur reaktionären "Ordnungszelle" mutiert, wieder verloren. Die schlimmste Zeit für die Gewerkschafter beginnt mit der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler am 30. Januar 1933. Wenige Wochen später verwüsten SA-Trupps das Gewerkschaftshaus in der Pestalozzistraße, führende Gewerkschafter werden festgenommen und ins Konzentrationslager Dachau verschleppt. Freie Gewerkschaften gibt es nicht mehr.

In der offiziellen Chronik der Stadt München steht unter dem Datum des 28. Oktober 1945: "Die allgemeine freie Münchner Gewerkschaft hält im Prinzregententheater eine Werbeversammlung ab. Es ist die erste gewerkschaftliche Großversammlung seit 1933. In Anwesenheit von Ministerpräsident Hoegner steht im Mittelpunkt der Veranstaltung die Ansprache Gustav Schiefers, des alten Führers der Münchner Gewerkschaftsbewegung." Damit beginnt auch die Nachkriegsgeschichte der Münchner IG Metall.

Aus dem Gastarbeiter wurde ein Mitarbeiter mit Migrationshintergrund

Als die Unternehmen in den Wirtschaftswunderjahren Arbeitskräfte aus Italien anwerben - "Gastarbeiter" nennt man sie -, erwächst den Gewerkschaftern eine neue Herausforderung: Wie soll man die Fremden integrieren? Sind sie eine Konkurrenz für die heimischen Arbeiter? Fungieren sie als Lohndrücker? 1973 gründet die IG Metall München einen Arbeitskreis für Fragen ausländischer Arbeitnehmer.

Heute hat ein Drittel der rund 43 500 Mitglieder einen Migrationshintergrund. Im BMW-Werk beispielsweise arbeiten Menschen aus mehr als 100 Ländern zusammen. "Im Betrieb spielt es überhaupt keine Rolle, wo jemand herkommt", sagt Alexander Farrenkopf. "Deshalb haben wir auch null Probleme mit Ausländerfeindlichkeit."

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: