200 Jahre Viktualienmarkt (4):Ein Flirt und die Folgen

Heimat der Heimatlosen, Fluchtburg der Ausreißer, Hort der Philosophen - das "Café Nymphenburg Sekt" ist mehr als nur ein Plastikzelt

Wolfgang Görl

Auf dem Barhocker sitzend, beobachtet Andreas Giebel mit Wohlgefallen das Treiben jenseits des grün gepinselten Holzgeländers. Es ist Mittagszeit. Die richtige Stunde für ein erstes Glas Weinschorle, das seine Wirkung insofern nicht verfehlt, als Giebel Sätze von erlesener Schönheit gelingen.

Ist es hier nicht, sagt er, wie auf einem Dampfer, wie auf einem stillen behäbigen Fluss, dessen Ufer in der Mittagssonne flirrend vorüberziehen, während man selbst, scheinbar reglos, bei leichten Alkoholika das Geschehen beobachtet? Leute schweben vorbei, keiner hetzt, keiner rennt, es ist, als hätten sie unendlich Zeit; und selbst, wenn hier jemand eine unangebrachte Hast an den Tag legen würde - was verschlüge es?

Gut geschützt vor den Zumutungen des Alltags

Auf den leicht abschüssigen Planken des Viktualienmarkt-Dampfers namens "Café Nymphenburg Sekt" ist man gut geschützt vor den Zumutungen des Alltags - vorausgesetzt, man verliert nicht den Überblick und lässt sich nicht zu leichtsinnigen Handlungen hinreißen.

Von so einem Fall erzählt der Kellner Florian Riedl, den Giebel zwecks Vertiefung in die Mysterien des Cafés soeben an den Tisch gebeten hat. Es gab da mal, berichtet Riedl, zwei fröhliche Rheinländerinnen, die sich zu einem Gläschen an der Bar eingefunden hatten. Sie blieben, wie an diesem Ort üblich, nicht lange allein. Ein Herr mittleren Alters machte den Damen mit strizzihaftem Charme den Hof, was diese sich gerne gefallen ließen, zumal dabei ein paar Freirunden Sekt heraussprangen.

Insgesamt lässt sich sagen, dass die bayerisch-rheinländische Annäherung erkennbar gut vorankam, wovon sich auch eine Frau überzeugte, die das Geschehen durch die transparente Plastikplane des Cafés mit Interesse verfolgte. Plötzlich, man weiß nicht wie, stand sie vor dem im Flirt vertieften Trio. Die Ohrfeige, die der galante Herr erhielt, kam ansatzlos aus dem Handgelenk, eine perfekt platzierte Watschn, die die Wange des Getroffenen gut durchblutete. Der geschlagene Mann und die schlagende Frau kannten sich bestens: Sie waren - und sind es hoffentlich noch immer - verheiratet.

Ohrfeige aus dem Handgelenk

Nicht, dass so etwas täglich passierte, meint Kellner Florian, aber eine "typische Gschicht" sei dies schon. Wer also mit amourösen Absichten, die der Lebenspartner unter Umständen als Liebesverrat auslegen könnte, in die Sekthütte geht, sollte bedenken, dass sich dort alles wie auf einer offenen Bühne abspielt. Das bekommt auch Andreas Giebel zu spüren, den Passanten hin und wieder mit einer Miene mustern, die besagt: Den kenn ich doch! Wie heißt der doch gleich?

Sofern sie Giebel nicht als Kabarettisten kennen, haben sie ihn vielleicht in Franz Xaver Bogners formidabler TV-Serie "München 7" gesehen, in welcher er den Polizisten Xaver Bartl spielte. Folglich ist es nur eine Frage der Zeit, bis die erste Bitte nach einem Autogramm erfolgt. Diesmal ist es ein älterer Herr mit Einkaufsbeutel und Hacklstock, der angeblich seine Nichte mit der unterschriebenen Fanpostkarte beglücken möchte. Der nächste beginnt das Gespräch mit einem Satz, dessen innere Logik in gedankliche Tiefen führt, die womöglich nur Altbaiern zugänglich sind: "Iatzt kim i vorbei, i bi vo Garmisch und kenn di glei. Des werd i heit abend meina Frau verzähln."

Giebel brummt freundlich "Ja", worauf eine überraschend klare Frage folgt. "Wann trittstn wieda im Ruffini auf?" - "Zuerst in der Drehleier, am Freitag und am Samstag." Mit diesem Wissen zieht der Mann ab, und die Ratlosigkeit, die er hinterlässt, kann auch Giebel nicht beheben: "Keine Ahnung, wer das ist."

Andreas Giebel gehört seit den Dreharbeiten für "München 7" zu den vielen, die, wenn sie nicht zuhause oder in der Arbeit sind, mit einiger Wahrscheinlichkeit im Café Nymphenburg Sekt sitzen. Sein Film-Ego Xaver Bartl hatte in dem Lokal, das in der TV-Serie "Neptun" hieß, einige mehr oder weniger polizeilich motivierte Einsätze, wobei der schönste in einen hinreißend hinterfotzigen Dialog mit dem Kleinganoven Wiedl-Toni (Michi Altinger) mündete, der sich dort bei Champagner und Austern die Zeit vertrieb. Austern gibt es in Wirklichkeit nicht, was aber Giebel nicht davon abhält, bei Gelegenheit in einer der ruhigeren Ecken an seinem künftigen Programm zu schreiben.

Wie im Raumschiff

Seine häufige Präsenz befähigt ihn inzwischen, die wenigen Quadratmeter des Cafés unter dem Aspekt der dort vorkommenden Menschentypen zu unterteilen. Demzufolge ist der Sektor vor dem Valentin-Brunnen vorzugsweise mit bekennenden Stammtischlern bevölkert, wohingegen an der Vorderfront gern Leute sitzen, die so tun, als wären sie zufällig da, obwohl auch sie so gut wie immer zugegen sind. Auf der Seite zur Prälat-Zistl-Straße ziehen sich die stilleren Leute zurück oder solche, die, wie Giebel, an einem Manuskript arbeiten.

"Eine Art Heiligtum" aber ist die kleine Stube im Inneren der Holzbude. Sie ist so etwas wie ein Chambre séparée - doch Vorsicht, es gibt auch dort ein Fenster! - , und würde Giebel einen bayerischen Mafiafilm drehen, dann wäre dies der Ort, wo der Mafiaboss Hof hielte. "Ich stell mir den dicken Marlon Brando vor, wie er in dem Zimmer hockt und Angebote macht, die man nicht ablehnen kann." Sollte Marlon Brando nicht zu kriegen sein: Andreas Giebel wäre unseres Erachtens auch keine schlechte Besetzung.

"Früher war das hier ein Milchhäusl", sagt die junge Wirtin Stephanie Glöckle, die gemeinsam mit ihrer Mutter Elke das Lokal führt. Aber seit die Marktbude ein Café ist, gepachtet von der Sektkellerei Nymphenburg, schaut hier niemand mehr auf ein Glas Milch vorbei. Auf ein Bier, auf einen Sekt oder Prosecco schon eher, zumal das Lokal noch geöffnet ist, wenn die Marktleute längst dicht gemacht haben.

Wer sich in eisigen Winternächten dem Café kurz vor der Sperrstunde um 22 Uhr nähert, wer sieht, wie sich hinter der feucht angelaufenen Plastikhülle die Konturen der Zecher abzeichnen, wie das fahle Licht im trostlosen Dunkel des wie von aller Welt verlassenen Viktualienmarkts schimmert, dem kommt es vor, als sei das Café Nymphenburg ein Raumschiff, das mit den letzten verbliebenen Menschen durchs kalte, finstere All gleitet.

Und wer das Raumschiff betritt, wird eine repräsentative Auswahl Münchner Schicksalsgestalten vorfinden, Künstler wie Giebel, Gemüsehändler und Wurstverkäufer, leitende Angestellte und Taxifahrer, Sekretärinnen, die eigentlich nur Mittagspause machen wollten, in die Jahre gekommene Vorstadt-Stenze, städtische Beamte und Bierphilosophen, kleinere Damengruppen auf Lästertour, Rentner und Prosecco-Kavaliere, einsame Herzen verschiedenerlei Geschlechts.

Und mit aufgestecktem Rothaar balanciert die Kellnerin Christine, die Frau mit den wahrscheinlich grünsten Augen Münchens, den vielgerühmten Elsässer Flammkuchen durch die Menge, Christine, die jeden Gast beim Namen kennt, und wenn nicht, dann kriegt sie ihn bald heraus. Kein Wunder, wenn einer vergisst, dass es auch noch eine Welt draußen gibt.

Mit dem Schuhlöffel verdroschen

Einem Stammgast ist das mal passiert, erzählt Stephanie Glöckle. Der ist mittags mit ein paar Freunden hereingeschneit, um seinen ersten Hochzeitstag zu begießen. Das zog sich hin, bis die daheim wartende Gattin anrief, die schon geahnt hatte, wo ihr Mann den Freudentag zu begehen trachtete. Man möge, ersuchte sie die Wirtin, ihren Göttergatten nach Hause schicken, und zwar sofort.

Der war mittlerweile in einem Zustand, der keinen Gedanken an das Zuhause zuließ. Wenig später stürmte die Frau, eine Russin, das Café, zog einen großen Schuhlöffel aus der Tasche und verdrosch den Angetrauten nach Strich und Faden. Zur Abrundung stülpte sie ihm den mit Eiswürfeln gefüllten Sektkübel über den Kopf. Russische Hochzeitstage verlaufen offenbar doch etwas turbulenter.

Wenn sich der Ostwind gelegt hat, kehrt im Café das Dampfergefühl zurück: Dahintreiben auf dem trägen Fluss. Was für ein wunderbarer Ort!

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