70 Jahre SZ:Das Blatt der Stadt

Stadtpanorama von München bei Sonnenuntergang

Die SZ hat ihre Heimat in München - und ist der Stadt in Antipathie und Leidenschaft gleichermaßen verbunden.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

In Antipathie und großer Leidenschaft: Die SZ ist mit München untrennbar verbunden. Kein Wunder also, dass der Lokalteil bei jedem großen Thema stets mitgestritten hat. Das muss auch künftig so bleiben.

Von Nina Bovensiepen und Christian Krügel

München hat sich in den vergangenen Wochen ins Rampenlicht der Welt gesetzt. Ganz wörtlich. In den Tagen, als Flüchtlinge zu Tausenden, manchmal zu Zehntausenden in der Stadt Aufnahme fanden, drängten sich Journalisten aus aller Welt am Münchner Hauptbahnhof, um die neue deutsche Gastfreundschaft zu bestaunen. Um zu schauen und zu filmen, wie die Bürger dieser oft und bisweilen zu Recht als bequem und selbstgefällig geltenden Stadt den Gestrandeten ein herzliches Willkommen bereiteten.

Wie die Münchner den Flüchtlingen Bananen und Wasserflaschen reichten, wie Hunderte Ehrenamtliche halfen, wie die Polizei und der Oberbürgermeister im Dauereinsatz alles dafür taten, den Menschen das Ankommen zu erleichtern.

Der Stadt in Antipathie verbunden

Manche sagen, die Tage im Spätsommer 2015 seien das einschneidendste Ereignis für München seit Olympia 1972 gewesen. "München leuchtet", titelte die Süddeutsche Zeitung, und der Stolz, der da mitschwingt, ist der Stolz auf die eigene Stadt, die eigene Heimat. Denn seit am 6. Oktober 1945 die erste SZ in Ruinen an der Sendlinger Straße, mitten im alten München, gedruckt wurde, ist das Wohl und Wehe dieser Zeitung immer auch mit dem dieser Stadt verbunden gewesen.

Die Süddeutsche Zeitung ist durch und durch eine Münchner Zeitung, nicht weil sie noch heute den Namen der alten Münchner Neuesten Nachrichten im Untertitel trägt. Sondern weil sich die Journalistinnen und Journalisten immer tief mit dieser Stadt und ihren Bürgern verbunden fühlten und fühlen. Ja, manchmal auch in Antipathie. Was in München geschah, was aus der Stadt werden sollte, kalt gelassen hat das die Redaktion nie, schon gleich gar nicht den Lokal-, Regional- und Bayernteil der Süddeutschen Zeitung, bis heute das größte Ressort der SZ-Redaktion.

Seit nunmehr 70 Jahren spiegelt er das Leben in Stadt und Land wider, verhält sich dazu, treibt Entwicklungen voran, reibt sich an ihnen. Mal nüchtern analysierend, mal empathisch sympathisierend. Und eben auch stolz auf die Tatkraft der Münchner, so wie in diesen Wochen im Spätsommer.

Antworten gesucht

Aber es braucht auch den kühlen, analytischen Blick auf die Ereignisse. Das große Willkommen, die Ankunft der Flüchtlinge hat ja jedem vor Augen geführt, dass sich diese Stadt und ihr gesamtes Umland in den nächsten Jahren und Jahrzehnten dramatisch verändern werden. Die Statistiker sagen München und der Region schon seit Jahren ein enormes Wachstum voraus, 300 000 und mehr zusätzliche Einwohner bis 2030 - und da sind die Zehntausende Menschen aus den Krisengebieten, die hier Schutz, Hilfe und ein besseres Leben suchen, noch gar nicht mitgerechnet.

Schwierige Fragen stellen sich. Wie viele der Flüchtlinge werden hier bleiben? Wie verkraftet der Großraum den Zuzug neuer Bürger? Wie verändern sie das Gesicht von Stadtvierteln, der unmittelbaren Nachbarschaft, die Zusammensetzung in Kitas und Schulklassen oder die Belegschaften in Firmen? Können rechtzeitig und genügend günstige Wohnungen gebaut werden? Was hat das für Folgen für die Infrastruktur, für die ohnehin schon überlasteten Verkehrssysteme? Und: Welche Folgen hat das für das Gefüge unserer Stadtgesellschaft?

Schon heute lebt jeder fünfte Münchner an oder unter der Armutsgrenze, während gleichzeitig der Reichtum der Stadt nicht nur in der Maximilianstraße unübersehbar ist. München, die soziale und solidarische Stadt - wie lange geht das noch gut?

Welche Meldungen es immer gibt

In dieser Beilage zum 70. Geburtstag der Süddeutschen Zeitung soll diesen Fragen nachgegangen werden. Klare Antworten hat die Redaktion darauf genauso wenig wie die politischen Verantwortlichen im Rathaus. Klar ist nur: Die Stadt und ihre Bürger sind in den vergangenen Wochen über sich hinausgewachsen - künftig wird es darum gehen, an diesen Aufgaben zu wachsen.

Neu ist das für München nicht. In der ersten Ausgabe der SZ vom 6. Oktober 1945 findet sich manche Titelzeile, die Lesern auch heute bekannt vorkommen dürfte. So war der Aufmacher der Nachrichten aus München mit der Zeile überschrieben: "Was wird mit dem Hauptbahnhof?" Und in der Nachrichtenspalte findet sich die Meldung "Netzkarten werden teuerer". Sowohl die Preise im Nahverkehr als auch die Renovierung des Hauptbahnhofs beschäftigen uns auch heute.

Als das Licht nach München kam

Und doch liegen zwischen dem München von 1945 und dem von 2015 Welten. Damals ging es zu allererst darum zu überleben. Hunger, Krankheit, Obdachlosigkeit waren in dieser heute so reichen Stadt allgegenwärtig. Und es ging darum, die Stadt wieder aufzubauen. Es galt, Industrien und wichtige Firmen zu locken, München überhaupt erst einmal bewohnbar zu machen für die Bevölkerung.

"München wird hell", ist eine Meldung in der Rubrik "Aufbau" überschrieben in der allerersten SZ. "In den Hauptstraßen sind in den vergangenen Monaten wieder 2300 Lichter aufgeflammt und täglich kommen neue Straßenlampen dazu." Bald werde München wieder die "halbnächtige" Beleuchtung haben wie vor dem Krieg, heißt es dort. In einer weiteren Meldung geht es um die Instandsetzung von Kliniken, darum, dass es an Arbeitskräften, an Zug- und Baumaschinen und an Material wie Dachziegeln, Zement und Fensterglas mangelt.

Scheinbar grenzenloses Wachstum

Symbolfigur des Wiederaufbaus wurde Thomas Wimmer, Oberbürgermeister seit 1948. Der SPD-Politiker packte in den harten Nachkriegsjahren selbst mit an, sein Aufruf zum allgemeinen Aufräumen "Rama dama" (für Neubürger: "Räumen tun wir") wurde Legende. Er brachte in seiner Amtszeit bis 1960 vieles auf den Weg, was München wachsen ließ. 1957 übernahm Thomas Wimmer die Patenschaft für den millionsten Münchner - und signalisierte auch damit den Bürgern, dass eine neue Ära für diese Stadt angebrochen war.

Das Wachstum schien grenzenlos zu sein, die alte Provinzhauptstadt sollte zur Millionenmetropole umgebaut werden, groß, glitzernd, autogerecht. Auch einige Redakteure der SZ fabulierten damals über gigantische Autobahnbauten quer durch die Stadt und fürchteten zwischenzeitlich das Ende Münchens nahen, als der Bau der Fußgängerzone zur Debatte stand. So konservativ und restaurativ die Bürger und die SZ etwa beim Wiederaufbau des Nationaltheaters waren, so irrwitzig wachstumsgläubig und euphorisch konnten sie doch auch sein.

Anzapfen in 19 Schlägen

Thomas Wimmers späterer Nachfolger Dieter Reiter ließ sich heuer stolz mit der kleinen Amelia ablichten. Mit ihrer Geburt hat die Stadt die 1,5 Millionen-Einwohner-Grenze überschritten - wieder ein Symbol, aber diesmal für ein Wachstum, das viele als ungezügelt empfinden, eine Entwicklung, die manchen Angst macht. Das Oktoberfest ist dafür gar kein schlechtes Beispiel, nicht nur weil der heutige OB eine dramatische Beschleunigung betrieben hat: Thomas Wimmer begründete die Anzapf-Tradition 1950 und brauchte dabei angeblich 19 Schläge, Dieter Reiter heuer nur zwei. Aus einem traditionellen Fest für Einheimische ist das weltweit größte Volksfest geworden, das die Stadt alljährlich in einen Ausnahmezustand versetzt und manchen Münchner eher abschreckt.

So wie heute auch viele mit dem Begriff "Olympia" ganz andere Themen verbinden als die Bürger vor 50 Jahren. Die Olympischen Spiele 1972 waren für München ein enormes Konjunkturprogramm, von dem die Stadt bis heute profitiert. Es wurden nicht nur fantastische Sportstätten errichtet, es entstanden neue Wohnungen, die U-Bahn wurde gebaut und ein S-Bahn- und Nahverkehrssystem entwickelt, das zukunftweisend war. Es hat den Boom der Region erst möglich gemacht. Heute leben im Umland in etwa so viele Menschen wie in der Stadt, wirtschaftlich prosperiert es oft mehr als München selbst.

Wie sich der Blickwinkel verändert

Inzwischen hat sich der Blick auf Olympia gewandelt. Als München sich für die Winterspiele 2022 bewerben wollte, wurde dies von heftig geführten Diskussionen zwischen Gegnern und Befürwortern begleitet. Am Ende entschied sich eine Mehrheit der Bürger dagegen: Zu groß war die Skepsis gegenüber dem Kommerzbetrieb Olympia und seinen Veranstaltern, zu groß die - vielleicht auch überzogene - Sorge vor einem "Immer mehr".

Selbst im Umland, also bei den Gewinnern von 1972, greift sie um sich. Inzwischen macht es kaum noch einen Unterschied, ob man in Dachau, Freising oder München wohnt: Die Mieten sind überall hoch, die Immobilienpreise utopisch. Deshalb ziehen die Menschen noch weiter hinaus, nach Landsberg, Mühldorf, Rosenheim. "Greater Munich" breitet sich aus, und im Inneren wächst der Druck.

Was für Olympia gilt, gilt auch für den Flughafen. Als der neue Airport im Erdinger Moos 1992 eröffnet wurde, war er zumindest in München ein gefeiertes Projekt. "Das Jahrhundertbauwerk als neues Tor zur Welt", schrieb die SZ und schwärmte vom modernsten und wahrscheinlich schönsten Flughafen Europas. In einer umfangreichen SZ-Beilage feierte BMW-Chef Eberhard von Kuenheim "eine Infrastruktureinrichtung von europäischem Rang". Tatsächlich hat wohl selten ein einzelner Bau einen solchen Boom ausgelöst wie dieses Projekt. Zigtausende Jobs sind entstanden, für den Standort München ist der Flughafen ein entscheidender Faktor.

Wenn die Bürger über Wachstum entscheiden

Und doch lehnten 20 Jahre später, 2012, die Münchner mehrheitlich eine dritte Startbahn für eben diesen Flughafen ab, von dem sie bisher profitiert haben. Es war ein klares Votum über mehr oder weniger Wachstum. Eine irrationale Entscheidung, sagen Befürworter des Ausbaus - und werfen dem Lokalteil der SZ bis heute vor, nicht genug Stimmung für den Ausbau gemacht zu haben.

So wie bei Olympia: Politiker und Funktionäre forderten bei der Bewerbung für die Spiele 2018 von der Redaktion, sich klar und eindeutig hinter das Projekt zu stellen und mal laut für Olympia in München und im Oberland zu trommeln. Das sei schließlich die patriotische Pflicht einer bayerischen und Münchner Zeitung.

Das ist auch so ein Kontinuum der vergangenen 70 Jahre: Die Süddeutsche Zeitung soll für das Scheitern und den Erfolg so vieler Münchner Projekte verantwortlich sein, mal weil sie zu wenig, mal weil sie zu viel berichtet hat. Ohne die SZ, heißt es, wären das National-, Cuvilliés- und Prinzregententheater nie wieder aufgebaut worden, hätten die Jusos in den Siebzigern nicht OB Georg Kronawitter gestürzt, wäre Erich Kiesl bis zur Jahrtausendwende Oberbürgermeister geblieben, hätte der FC Bayern kein neues Stadion bekommen, wäre Peter Gauweiler 1993 gewiss als Chef ins Rathaus eingezogen und Christian Ude mit Sicherheit 2013 Ministerpräsident geworden. Das ist natürlich alles falsch.

Mit Leidenschaft für München

Und wahr zugleich: Denn als ihre einzige "patriotische Pflicht" hat es die Lokalredaktion immer angesehen, ihre Leser so umfassend zu informieren, dass diese sich ihre eigene Meinung bilden und handeln konnten. Das ist gewiss mal besser und mal schlechter gelungen. Aber die Vorstellung, die Lokalzeitung könnte mit einer Schlagzeile die Stadt verändern, ist dann doch zu naiv. Das vermögen in Wahrheit nur die Leser, und die haben das auch immer wieder ganz konkret getan. Mehr als 100 Millionen Euro spendeten sie zum Beispiel seit 1948 für Münchner in Not, angeregt durch den SZ-Adventskalender. Das Hilfswerk der Süddeutschen Zeitung hilft damit jährlich Tausenden Menschen.

Oberbürgermeister Dieter Reiter hat die Wahl 2014 mit dem braven Slogan "Damit München München bleibt" gewonnen. Das suggeriert, nichts werde sich, nichts müsse sich ändern. Es ist ein Treppenwitz, dass ausgerechnet Reiter in den Tagen der Flüchtlingskrise zum obersten Manager der Veränderung wurde. Wohin sie uns führt, weiß noch keiner. Wird Münchens Gesellschaft bunt, kreativ, schrill wie in New York? Entsteht ein Siedlungsbrei mit Wohnghettos wie in Paris? Wird Greater Munich in steinreiche und bettelarme Gegenden zerfallen wie Greater London? Oder schafft es diese reiche Stadt eben doch, ihren Wohlstand und ihr Wachstum so zu gestalten, dass sie lebens- und liebenswert bleibt?

Die Süddeutsche Zeitung kann diese Fragen nicht entscheiden. Aber sie wird sie stets begleiten, mit Ideen, mit Lob, mit Kritik - und immer mit großer Leidenschaft für ihre Heimatstadt.

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