20 Jahre Straßenzeitschrift "Biss":Der Druck der Straße

Straßenzeitung Biss

Sie geht in Rente, nicht in Ruhestand: "Biss"-Noch-Geschäftsführerin Hildegard Denninger.

(Foto: Peter Kneffel/dpa)

Wer sie aussperrt, bekommt Ärger: 41 Verkäufer arbeiten in Festanstellung bei der Münchner Straßenzeitung "Biss". Dank ihres Jobs können sie selbstbewusst auftreten und weitgehend selbstbestimmt leben. Vor 20 Jahren wäre das kaum denkbar gewesen.

Von Sven Loerzer

Unübersehbar stehen sie dort, wo viele Menschen vorbeiströmen: in den Zwischengeschossen von U- und S-Bahn, auf öffentlichen Plätzen, ein Magazin hochhaltend, das durch seine Schwarz-Weiß-Titelbilder aus der bunten Blätter-Welt heraussticht. Nur der Schriftzug Biss prangt grellrot auf dem Blatt, "Bürger in sozialen Schwierigkeiten". Die Verkäufer gehören längst zum vertrauten Stadtbild, nicht selten begegnet man ihnen auch in den Kneipen der Stadt.

Wer sie aussperrt, wie bei einer CSU-Festzelt-Kundgebung in der Region geschehen, handelt sich Ärger ein. Wie sehr die vor 20 Jahren gegründete Straßenzeitschrift Biss dazu beigetragen hat, das Bild von Obdachlosen zu wandeln und viele Berührungsängste abzubauen, zeigt sich auch daran, dass die Biss-Leute regelmäßig gut besuchte Stadtführungen anbieten, zur anderen Seite dieser Stadt: zu den Anlaufstellen für Menschen in Not. An diesem Donnerstag feiert Biss seinen Geburtstag im Alten Rathaussaal zusammen mit vielen Freunden und natürlich mit den etwa 100 Verkäufern, die zumeist obdach- und arbeitslos waren.

Vor 20 Jahren noch wäre es kaum denkbar gewesen, obdachlose Menschen ins Alte Rathaus einzuladen. In den Neunzigerjahren erregte der Personenkreis die Gemüter: Die einen reagierten mit Mitleid, andere, wie der damalige Kreisverwaltungsreferent Hans-Peter Uhl (CSU), mit Härte und Zwangsgeldern, um Obdachlose aus dem Stachus-Untergeschoss zu vertreiben. In diesen Zeiten entstand auch ein ungewöhnliches Projekt.

Eine Idee aus London

Eine Tagung mit Obdachlosen in der Evangelischen Akademie Tutzing hatte die Probleme von Armut und Wohnungslosigkeit deutlich gemacht. Jürgen Micksch, damals Vize-Direktor der Akademie, stieß schließlich auf einen Bericht über Londons Straßenzeitung The Big Issue - produziert von Journalisten, verkauft von Obdachlosen.

Die Anregung griff Micksch auf. Hermann Swoboda, einer der Obdachlosen, die nach der Tagung häufig in Tutzing bei Micksch vorbeischauten, bekräftigte, dass er genügend Obdachlose finden werde, die sich beteiligen. Der Freigeist Swoboda, der 2006 starb und in der Grabstätte der Straßenverkäufer am Ostfriedhof seine letzte Ruhe fand, hatte auch schon den Namen im Kopf: Biss.

Die beiden machten sich ans Werk, gewannen professionelle Mitstreiter, wie Christian Schneider von der SZ und Klaus Honigschnabel von der Akademie der Bayerischen Presse, die sich ehrenamtlich für das Projekt engagierten. Anders als in London wollten die Profis aber auch die Obdachlosen an der Erstellung der Zeitung beteiligen. Bei den etablierten Trägern der Obdachlosenhilfe stieß das Projekt damals auf ziemliche Skepsis. Biss erschien am 17. Oktober 1993 erstmals, passend zum Internationalen Tag der Armut. Dank des großen Medienechos war die erste Auflage schnell vergriffen, sodass nachgedruckt werden musste.

20 Jahre Straßenzeitschrift "Biss": Biss-Verkäufer Joachim Seifert in der Fußgängerzone.

Biss-Verkäufer Joachim Seifert in der Fußgängerzone.

(Foto: Stefan Rumpf)

Richtungsstreit unter den Machern

Bereits im Jahr darauf stieß die fränkische Wirtstochter und Bilanzbuchhalterin Hildegard Denninger als Koordinatorin zu Biss, die später dann auch Geschäftsführerin wurde. In dem Richtungsstreit, der unter den Machern des neuen Blatts ausbrach, gewann die "Arbeitsplatzfraktion" die Oberhand über die "Herz-Schmerz-Fraktion".

Hildegard Denninger sah von Anfang an die Zukunft der Zeitschrift auch darin, Arbeitsplätze für Obdachlose zu schaffen, um so ihre Lebensbedingungen zu verbessern, statt nur als Sprachrohr den Armen und Obdachlosen eine Stimme zu geben. Ein Trägerverein entstand, aus ehrenamtlicher Arbeit wurden feste Jobs in Verwaltung und Redaktion des Betriebes, um eine monatliche Erscheinungsweise einführen zu können. Denn das war die Voraussetzung dafür, Verkäufern ein regelmäßiges Einkommen zu verschaffen.

Leben nach dem Absturz

Pfiffige Plakataktionen mit Prominenten machten Biss immer bekannter und beliebter und steigerten die Auflage, die heute bei fast 40.000 Exemplaren liegt. Rudolph Moshammer, der schillernde Geschäftsinhaber aus der Maximilianstraße, wurde einer von vielen Förderern.

Feste Arbeitsplätze auch für die Verkäufer zu schaffen, war erklärtes Ziel von Hildegard Denninger, die Biss zu einem Sozialunternehmen formte: Bereits 1998 konnte sie die drei ersten Verkäufer fest anstellen. Heute sind es 41 festangestellte Verkäufer, die in Teil- und Vollzeit zwischen 400 und 1200 Hefte absetzen und dafür zwischen 700 und 1900 Euro brutto verdienen. Ihr Gehalt erwirtschaften sie zur Hälfte durch den Erlös für die verkauften Hefte selbst, die andere Hälfte wird über Patenschaften und Spenden finanziert. Biss beschäftigt noch etwa 60 weitere Verkäufer, die pro verkauftem Heft jeweils die Hälfte des Verkaufspreises von 2,20 Euro erhalten.

Der regelmäßige Verkauf an festen Standplätzen hat das Leben der Verkäufer verändert. Viele sind nicht mehr auf staatliche Unterstützung angewiesen und konnten wieder eine Wohnung beziehen. Der Sozialarbeiter und Ehemann der Geschäftsführerin, Johannes Denninger, der sich in Teilzeit um den Vertrieb, aber auch um die Probleme der Verkäufer kümmert, hilft dabei, das Leben nach dem Absturz wieder aufzubauen.

Biss hat die Verkäufer über die Jahre hinweg auch zu Botschaftern eines anderen Bildes von Obdachlosen gemacht: Denn der Verkauf ist Arbeit, und die bringt Anerkennung und vor allem Kontakt. Da fragen Stammkunden besorgt nach, wenn sie "ihren" Verkäufer mal ein paar Tage nicht sehen, weil er krank ist.

Inzwischen gibt es 35 Straßenzeitungen in deutschen Städten, doch feste Arbeitsplätze für Verkäufer bieten sie kaum, wie Hildegard Denninger bedauert. Nur in Nürnberg und Stuttgart gebe es einige Angestellte. "Biss spielt qualitativ und vom Anspruch her in der obersten Liga", sagt der frühere Rathausfraktionschef der Grünen, Siegfried Benker, der die Festrede bei der Feier halten wird. "Biss war immer parteiisch, aber nie parteilich. Deswegen wird Biss auch gehört." Unermüdlich habe sich Hildegard Denninger dafür engagiert.

Denningers größter Traum ist gescheitert

Ende des Jahres wird die 65-Jährige "in Rente gehen, nicht in den Ruhestand", die Verantwortung für das Tagesgeschäft an Karin Lohr übergeben, die bisher als Geschäftsführerin des mit Biss kooperierenden, erfolgreichen Qualifizierungsbetriebs "Dynamo Fahrradservice" tätig war.

Für die Straßenzeitschrift aber will Hildegard Denninger weiter aktiv bleiben. Auch wenn ihr größter Traum, aus dem ehemaligen Frauengefängnis am Neudeck ein Luxushotel zu machen, das arbeitslosen Jugendlichen Ausbildung bietet, gescheitert ist am Gewinnstreben der bayerischen Staatsregierung. "Wir haben sehr viel Kraft gelassen", sagt Johannes Denninger. "Aber wenn ein Hotelier auf die Idee käme, uns seinen alten Schuppen zu übergeben, würden wir sofort wieder einsteigen."

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