Itlaiener auf dem Oktoberfest:Amore zur Wiesn

Das Prosit-Lied auf den Lippen, Muskelkater vom Maßkrugheben im Arm und glasige Augen: Warum sich italienische Touristen auf dem Oktoberfest so wohl fühlen.

Philipp Crone

Als Antonio diese Wiese sieht, erschrickt er. Der 35-jährige Römer mit langen Haaren, großen Ohren und lächelndem Gesicht schaut von der Wirtsbudenstraße an den Festzelten vorbei auf die etwa 100 Bierleichen, die dahinter am grünen Hang sitzen und liegen. "So viele", fragt Antonio, "sind es schon am Nachmittag?" In dem Moment schieben Sanitäter eine mit gelben Planen halb verhüllte Liege an ihm vorbei, darauf liegt ein bewusstloser Mann in Lederhose, angehängt an eine Infusion.

Das Lächeln und die Vorfreude sind aus Antonios Gesicht verschwunden. Es ist sein erstes Mal, er hat sich für das Wiesnwochenende viel vorgenommen und sich sogar vorbereitet. "Ich habe in den letzten Wochen alle paar Tage ein kleines Bier getrunken." Der Tag kann für den Mechaniker und seine beiden Freunde Luciano, 34, und Paolo, 38, aus Rom eigentlich nur auf diesem cimitero degli ubriachi enden, auf dem Friedhof der Bierleichen.

Italienerwochen statt Italienerwochenende

Es ist der erste Wiesnsamstag, aber man könnte meinen, es ist der zweite. Denn der gilt gemeinhin als Teil des sogenannten Italienerwochenendes, weil an diesen Tagen besonders viele Besucher aus Italien auf der Wiesn weilen. Doch mittlerweile sind aus dem Italienerwochenende Italienerwochen geworden. Antonio, Luciano und Paolo treffen auf ihrem Weg alle paar Meter Landsleute. Man erkennt sie meist daran, dass auch sie nicht so richtig vorankommen auf den überfüllten Wegen. So ein Gedränge sind sie nicht gewohnt. "Ich hätte nicht gedacht, dass das Fest so groß ist", sagt Antonio voller Ehrfurcht.

Warum sind gerade Italiener so begeistert vom Oktoberfest? Paolo sagt, als er sich zum Nebeneingang N1 vom Hackerzelt durchkämpft: "Es ist in Italien oft so, dass ein paar Jungs abends bei einem Bier zusammensitzen und irgendwann jemand, der schon einmal da war, vom Oktoberfest erzählt. Dann bekommen die anderen große Augen und verabreden sich, beim nächsten Mal auch hinzufahren. Und wer da war, erzählt stolz seine eigene Geschichte und begeistert damit wieder die nächsten."

Die Geschichte von Antonio beginnt um 17 Uhr mit dem Anstoßen in Boxe 13. Hier haben die drei einen Tisch und stemmen ihre erste Maß, allerdings mit falscher Grifftechnik. Paolo umfasst das Glas mit der Hand und quetscht sich sofort einen Finger ein. Erst nach dem ersten Schluck orientieren sich die drei, nehmen ihre Digitalkameras in Betrieb und filmen diese neue, noch fremde Welt.

Zum lauten Rauschen tausender Stimmen und der Musik aus der Zeltmitte bewegen sich die Menschen um sie herum, manche nur ihre Arme zum Prosten, andere auch die Beine zum Tanz, alle mit fröhlichen Gesichtern, viele in Tracht. Auch das mögen die Römer. "Diese Mischung aus Tradition und Fest ist es wohl, was uns sehr gefällt", sagt Paolo. Denn auch in Italien gebe es viele Traditionen und Rituale.

Eine Wiesntradition ist, dass man schnell mit anderen ins Gespräch kommt. Am Nebentisch sitzen - überraschenderweise - Italiener, und an den Tisch der Römer gesellen sich gleich ein paar Deutsche von gegenüber. Um 19 Uhr hat Antonio seine ersten beiden Wiesnmaß geleert, etwa 15 Menschen kennengelernt, das Prosit-Lied auf den Lippen, einen spürbaren Muskelkater im rechten Arm vom Krugheben und leicht glasige Augen. Paolo hat dazu noch einen Ohrwurm. Er singt: "Wir feiern die ganze Nacht."

"Wir feiern die ganze Nacht"

Eine Musikpause und ein Hendl bringen ein paar Minuten Ruhe in den Abend der drei. Gegen 21 Uhr wirken Antonio und Co schon nicht mehr wie Wiesn-Rookies, sondern fast wie Routiniers. Sie stehen und tanzen sicher auf den nassen Bänken, nehmen andere selbstverständlich zum Plausch in den Arm und erkennen die Prosit-Melodie ohne Verzögerung.

Alles dreht sich um il boccale

Auch die letzte um 22 Uhr. Das schale Noagerl der vierten Maß trinken sie artig aus und schauen fasziniert zu, wie sich um sie herum in kürzester Zeit die Feier zum Feierabend wandelt, energische Bedienungen die Gäste zum Aufbruch drängen und sich die meisten daran halten.

Antonio kann spätestens jetzt, obwohl des Englischen nicht mächtig, mit jedem kommunizieren. Einer erklärt und zeigt ihm, wie er den leeren Maßkrug, il boccale, aus dem Zelt schmuggeln kann. Der wandert schließlich, am Henkel im Gürtel eingehängt und von Antonios Jacke bedeckt, unentdeckt ins Freie. Noch ein Autoscooter-Stop, eine Fahrt auf dem Tobogan, dann geht es nach Hause.

"Wir haben gestern alles richtig gemacht", sagt Antonio beim Weißwurstfrühstück. Und Luciano zählt auf: "Wir haben gefeiert und getrunken, erzählenswerte Geschichten erlebt, sind aber nicht auf dem cimitero degli ubriachi gelandet und haben nur einen Muskelkater."

Den zweiten Abend, diesmal im Winzerer Fähndl, verbringen die Römer schon als Wiesnprofis. Manche deutsche Texte können sie mitsingen, lassen sich von zwölf Maß tragenden Bedienungen nicht mehr aus der Ruhe bringen und Antonios boccale ist beim Anfangston der Prosit-Hymne schon oben, der este im Zelt.

Am Montagvormittag im Biergarten auf dem Viktualienmarkt beraten die drei, warum es ihnen nun eigentlich so gefallen hat. Antonio sagt: "Mich fasziniert, dass man hier mit lauter fremden Menschen zusammen eine riesige Party feiert." Dann dreht er sich abrupt zu seinen beiden Freunden um und sagt: "Ich werde auf jeden Fall wiederkommen."

Aber erstmal wird er seinen Freunden in der Heimat seine Geschichte erzählen; davon, dass er auf der größten Party der Welt war, wie er den Maßkrug an den Ordnern vorbeigeschmuggelt hat und trotz vier Litern Bier nicht auf der gelben Sanitäterliege weggetragen werden musste.

Und dann werden sicher wieder zwei, drei Freunde beschließen, dass sie das auch unbedingt erleben wollen.

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