Interview:Gestern dort, heute hier

Lesezeit: 3 min

Marie lebt seit ihrer Geburt in München - manchmal langweilt sie das, sie schätzt aber die Vertrautheit. Ihre Schwester Julia ist nach dem Abitur nach Berlin gezogen, später nach Leipzig - das fand sie viel aufregender. Ein Gespräch übers Fortgehen und Wiederkehren

Von Jennifer Lichnau

Marie, 25, und Julia Vatter, 34, sind gemeinsam aufgewachsen. Dann ist Julia ausgezogen und nach Berlin gegangen. Marie ist in München geblieben. Sie studiert Deutsch als zweite Fremdsprache auf Lehramt, davor schon Romanistik. Sie ist groß, ihre langen blonden Haare hat sie zurückgebunden. Julia, die ältere Schwester, ist kleiner. Die Haare sind braun, die Augen auch. Sie hat Theaterwissenschaften studiert und arbeitet jetzt bei der Bayerischen Landeszentrale für neue Medien. Ein Gespräch zweier Schwestern, die unterschiedlich sind, und doch eines gemeinsam haben: München. Nach langer Trennung leben sie heute hier wieder Tür an Tür.

SZ: Julia, warum hast du dich nach dem Abitur gegen München entschieden?

Julia: München ist im Vergleich zu anderen Städten einfach ein Stück konservativer. Nach dem Abitur habe ich vor mich hin gejobbt, war viel unterwegs, wenig daheim, und ich wusste nicht so recht, wo es hingehen soll. Als meine Eltern mir deutlich gemacht haben, dass es langsam an der Zeit sei, auf eigenen Beinen zu stehen, war für mich schnell entschieden, dass ich meinen neuen Lebensabschnitt in Berlin beginnen will.

SZ-Grafik (Foto: SZ-Grafik)

Marie: Warum Berlin?

Julia: Schon zur Schulzeit war ich ein paar Mal in Berlin und fand diese große, bunte Stadt wahnsinnig aufregend: Menschen mit Schlafanzug im Späti oder Graffiti an jeder zweiten Hauswand - so was kannte ich von München nicht. Ich habe es zu dem Zeitpunkt genossen, ein bisschen in der Luft zu hängen und noch nicht genau zu wissen, was kommt. Das ging in Berlin, in München nicht. Da wäre auch der Einfluss der Eltern stärker gewesen.

Marie: Zu dem Zeitpunkt, als Julia weggezogen ist, habe ich noch gedacht, ich ziehe niemals aus.

Julia: Ja, du warst als kleines Mädchen schüchterner und zurückhaltender, als ich es früher war. Das kann man inzwischen aber nicht mehr von dir behaupten! (Sie lacht.)

Marie: Ich habe überhaupt nicht verstanden, warum Julia ausgezogen ist. Viele Wochen war ich jeden Tag total traurig. Und ich habe Julia viele Briefe geschrieben.

Inzwischen leben sie wieder Tür an Tür: Marie (links) und Julia Vatter. (Foto: Robert Haas)

Marie, was gibt dir München gerade für ein Gefühl?

Marie: Es ist alles ganz klar verknüpft mit Familie, Freunden, Vertrautheit eben. Und mit meinem Freund, mit dem ich hier zusammen lebe. Dazu kommt das Gefühl, sich schon auszukennen, schon hier zu sein. Aber gerade deswegen, weil ich alles kenne, langweilt es mich auch gelegentlich.

Marie, konntest du dich in München denn trotzdem auch so ausleben, die Freiheit genießen wie Julia? Obwohl du geblieben bist?

Julia: Also dazu muss man auch sagen, bei Marie waren unsere Eltern in der Erziehung generell viel entspannter. Und wahrscheinlich hatten sie doch auch ein bisschen Sorge, auch sie könnte weiter weggehen als ihnen lieb ist.

Marie: Ja, das stimmt. Ausziehen wollte ich trotzdem schnell. Ich habe genauso wie Julia zunächst mal gejobbt, im Café Jasmin an der Augustenstraße, und bin um die Ecke in eine WG gezogen. Es war eine spannende Zeit. Aber auch, wenn ich an die Schulzeit zurückdenke, habe ich nicht das Gefühl, dass mir München etwas verwehrt hat. Meine Freunde und ich haben viel Reggae und Ska gehört, waren zeitweise ein bisschen in der Punkszene unterwegs.

Julia: Ich finde aber, in München wird man mit Dingen konfrontiert, die in anderen Städten nicht so relevant sind.

Marie: Was meinst du?

Julia: Mit gewissen Lebenswelten, mit anderen Lebensstandards, mit dem Geld-Thema. Das war in Leipzig zum Beispiel nicht. Da bin ich nach einem Jahr Berlin zum Studieren hingezogen. Und dort habe ich sehr schnell Leute auf meiner Ebene gefunden. Alle führen ein ähnliches Leben. Der eine hat etwas mehr, der andere etwas weniger Geld, aber im Grunde sind die meisten auf einem Level.

Marie: Ich würde das aber nicht für München verallgemeinern. Man darf sich eben nicht damit konfrontieren lassen. Aber irgendwie stimmt es auch. Es geht viel um Status hier, es ist mehr Thema - Autos, Klamotten und so. Selbst im Studentenviertel sind alle so schickimicki unterwegs.

Marie, wenn du jetzt aus München wegziehen würdest, würdest du die Stadt vermissen?

Marie: Klar. Gerade aus den Gründen, warum ich auch hier bin: Freundschaft, Familie und auch diese Vertrautheit. Man muss in München zwar seinen Platz, sein Umfeld suchen. Aber ich lebe nun schon so lange hier und das wirklich erfüllt. Ich habe Kontakt mit so vielen unterschiedlichen tollen und interessanten Menschen. Auch durch meine Arbeit im Import Export hat sich mir noch mal eine ganz neue Welt eröffnet - mit neuen Entwürfen und Einstellungen. In München gibt es wirklich unglaublich viel zu entdecken und zu erleben. Deswegen bin ich auch hier.

Julia: Aber ich bin auch nicht mehr anti-München wie früher. Da wollte ich es einfach alternativer. Mir war alles zu dröge. Mittlerweile weiß ich es sehr zu schätzen, wie schön es hier ist und wie gut man hier leben kann. Man muss einfach wissen, an welche Orte man in München geht. Um dies alles wieder schätzen zu können, war es für mich aber wichtig, einige Zeit fortgewesen zu sein.

Marie: Vermisst du Leipzig?

Julia: Vermissen? Ja. Zurückgehen? Nein! München ist wieder meine Heimat.

© SZ vom 12.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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