Internetsucht:Auf der Suche nach der Escape-Taste

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Die Ambulanz für Medienabhängigkeit hilft Menschen aus ihrer virtuellen Welt zurück in die Realität. Die Mehrzahl der Patienten sind junge Männer

Von Bernhard Lohr, Haar/München

Jetzt reicht es aber, findet die Mutter. Schließlich hat ihr 15-jähriger Sohn wieder die Nacht an seinem Gaming-PC durchgezockt. Er hat sich bei "World of Warcraft" über Monate zum Crack hochgearbeitet. Jetzt soll er am Samstag aber mit den Eltern raus zum Ausflug in die Berge. Doch der 15-Jährige sträubt sich mit Händen und Füßen. Was die Mutter nicht weiß: Ihr Sohn ist fest verabredet. Die nächste Spielrunde im Internet steht an. Und er ist als Gildenleiter für die Spielorganisation verantwortlich.

Susanne Pechler kann von solchen Konflikten erzählen. Zu der Psychiaterin und Psychotherapeutin in der Ambulanz für Medienabhängigkeit des Isar-Amper-Klinikums in Haar kommen verzweifelte Eltern und die Jugendliche, die den "Realitäts-Check" nicht hinbekommen, wie es Pechler nennt; für die ein Computerspiel wichtiger ist als die Familie und die ein Instagram-Foto für bare Münze nehmen. 50 Klienten hat Pechler, im Alter von 15 bis 26 Jahren. 47 davon sind männlich.

Viele Eltern fragen sich bei ihren Kindern schon früh, wo die Grenzen des verträglichen Internetkonsums sind. Die Ergebnisse der in diesem Sommer vorgelegten "Blikk-Medienstudie" der Rheinischen Fachhochschule Köln sprechen eine deutliche Sprache: Verbindungen zwischen intensiver Mediennutzung und Entwicklungsstörungen bei Kindern wurden festgestellt. Eine Schlussfolgerung lautet, dass das Risiko steigt, wenn digitale Medienkompetenz nicht frühzeitig erlernt wird. Susanne Pechler gibt viel auf die aus ihrer Sicht aussagekräftige Studie, will aber Mediennutzung nicht an sich verteufeln.

Sie warnt, vorschnell von Krankheit zu sprechen. Um zu verstehen, was mit den meist jungen Betroffenen passiert, ist für die Therapeutin der Begriff der Immersion wichtig, der für die Fähigkeit steht, in einen virtuellen Kosmos einzutauchen. Auch das sei nicht krankhaft, aber bei manchen stark ausgeprägt und ein Gradmesser dafür, wie groß die Gefahr sei abzudriften. Der Begriff der Dichotomie beschreibt die strikte Trennung der beiden Welten. Die müssten Patienten erst einmal erkennen. "Was wir im virtuellen Leben erleben, können wir nicht mitnehmen ins reale Leben", sagt Pechler. Ein Gildenleiter bei World of Warcraft ist eben nur ein Held im Netz, dem eben dort viele folgen. Echte Anerkennung und eine Freundin findet ein 15-Jähriger nur im realen Leben.

Wenn Jugendliche und ihre Eltern merken, dass etwas schief läuft, kommen sie zur Ambulanz für Medienabhängigkeit, die in Haar und auch in München-Schwabing in der Leopoldstraße 175 residiert. Die Kontaktaufnahme ist unkompliziert: Eine E-Mail reicht und man bekommt eine Antwort und bald einen Termin. "Wir haben einen Versorgungsauftrag", sagt Pechler, die weiß, dass hinter denen, die sich melden, ein Leidensdruck steht. Und wenn Eltern irgendwann ihre Kinder soweit hätten, sich bei der Ambulanz mit ihrem Problem zu melden, sagt Pechler, müsse man die Gelegenheit nutzen. Innerhalb von zwei Wochen gibt es einen Termin zum Kennenlernen. Dann kann eine Therapie folgen, mit wöchentlich 50-minütigen Sitzungen. Ein bis zwei Jahre kann das gehen, bis ein Jugendlicher wieder in der realen Welt Fuß fasst. Es werden Verhaltensregeln trainiert. Computernutzung ist nicht verboten. Es wird keine Abstinenz eingefordert, wie beim Drogen- oder Alkoholentzug. Die Mediennutzung wird nach einem Ampelsystem reguliert: Rot für sogenannte Massively Multiplayer Online Role-Playing Games, bei denen wie bei World of Warcraft über Gruppenzwang und Rollen starke Bindungen aufgebaut werden; gelb für Youtube und Facebook und grün - wie unbedenklich - für E-Mails und Skype. Es sei ein Prozess, das zu verinnerlichen, sagt Pechler. Soziale Kontakte müssten langsam wachsen. Dass ihre Klienten meist junge Männer sind, führt Pechler darauf zurück, dass die Computerwelt von Männern geprägt ist. Aber Frauen holten auf, sagt sie. Manche junge Männer, die am PC hingen, bräuchten am dringendsten eine Partnervermittlung, sagt Pechler.

Fortschritte in der Therapie macht die Ärztin an einfachen Dingen fest. Wenn ein Single, der nächtelang durchgezockt hat, eine Freundin findet, wäre das so ein Punkt. Sie merkt, dass sich was tut, wenn ihre Klienten Probleme haben, einen Termin zu vereinbaren. Weil sie anderweitig verplant sind. Anfangs haben sie immer Zeit.

Ambulanz für Medienabhängigkeit, Sprechstunde PC- und Internetsucht, Isar-Amper-Klinikum München, Standort Haar und an der Leopoldstraße 175, Oberärztin Susanne Pechler, Infos unter Telefon 01522/269 34 88, E-Mail susanne.pechler@kbo.de

© SZ vom 20.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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