Internetaktion #ichhabnichtangezeigt:Vergewaltigungsopfer brechen ihr Schweigen

War mein Rock zu kurz? Hätte ich ihn nicht mit nach Hause nehmen dürfen? Ihn nicht anlächeln sollen? Bei keinem anderen Verbrechen haben Opfer so große Scheu den Täter anzuzeigen, wie bei sexueller Gewalt. Die Internetaktion #ichhabnichtangezeigt will das ändern. Die Resonanz ist gewaltig.

Katja Riedel

Sabina Lorenz erlebt derzeit viele Momente, in denen es ihr kalt den Rücken hinunterläuft, in denen sie schlucken muss und ihr Tränen in die Augen steigen. Doch an diesem Morgen vor wenigen Tagen hat es sie fast umgehauen. Da las sie, was jemand gerade eben, als sie den Kaffee aufsetzte, anonym per Mail gesendet hatte: "Ich hab nicht angezeigt, weil es gerade heute Nacht passiert ist." Die Bettwäsche, ein wichtiges Beweismittel, sei gerade in der Maschine.

Dieses "es" ist der Grund, warum Lorenz und vier Münchner Mitstreiterinnen in diesem Mai fast rund um die Uhr am Computer sitzen. "Es" ist ein Tabuthema: sexuelle Gewalt. Gewalt, welche die Opfer traumatisiert hinterlässt und die viele Betroffene lieber verschweigen als sie bei Polizei und Staatsanwaltschaft anzuzeigen, aus Scham, aus Angst vor dem Verfahren, in dem sie beweisen müssen, was ihnen angetan wurde, oder auch aus Zweifel, vielleicht doch selbst den Täter ungewollt ermutigt zu haben. War mein Rock zu kurz? Hätte ich ihn nicht mit nach Hause nehmen dürfen? Ihn nicht anlächeln sollen?

Seit dem 3. Mai lesen Sabina Lorenz und die anderen Frauen Hunderte solcher Fragen und kurzer Geschichten. Sie handeln von Gewalt, von Übergriffen, von Ängsten und dem Gefühl, nicht darüber sprechen zu können, was passiert ist. Noch bis Ende Mai läuft ihre Internetaktion #ichhabnichtangezeigt.

Frauen und Männer, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, können über Facebook, Twitter und eine E-Mail-Adresse anonym berichten, warum sie die Tat nicht bei der Polizei angezeigt haben. Damit wollen sie, so sagt es Mitorganisatorin Daniela Oerter, ein gesellschaftliches Umfeld schaffen, in dem Frauen es eher wagen, eine Tat anzuzeigen und selbst Gesicht zu zeigen, als Opfer. "Unsere Gesellschaft, in der Opfer ein Schimpfwort ist, empfinde ich als opferfeindlich. Ich kenne mehrere Frauen, die Opfer sexueller Gewalt geworden sind, aber keine einzige hat angezeigt ", sagt Oerter.

Bayernweit 5937 Anzeigen

Zahlen bestätigen das: Im Jahr 2010 wurden bayernweit 5937 Anzeigen wegen Vergewaltigung oder sexueller Nötigung erstattet, in München waren es im vergangenen Jahr 246. Die Gesamtzahl der Taten wird auf das 10- bis 20-fache geschätzt. Für Daniela Oerter ist das eine schockierende Erkenntnis. Sie macht dafür auch die Situation bei Polizei und vor Gericht verantwortlich.

Die Opfer müssten immer wieder von der Tat berichten, müssten Beweismittel sichern, ungewaschen bleiben, wenn sie sich eigentlich nur reinigen wollen. In einer seelischen Ausnahmesituation müssten sie sofort, am besten in den ersten zwölf Stunden, in denen sie kaum agieren können, Ermittler und Ärzte aufsuchen, in München etwa die Frauenklinik in der Maistraße.

Dass dies viele Frauen abschrecke, die Tat anzuzeigen, wundert Oerter nicht. Sie sieht sich nicht nur durch Studien, sondern auch von einer Schreiberin bestätigt: "Ich hab nicht angezeigt, weil ich selbst Juristin bin und genau weiß, wie solche Verhandlungen laufen."

Beziehungstaten und Kindesmissbrauch

Die Frauen wollen das ändern und, trotz aller Widrigkeiten, erreichen, dass mehr Opfer zur Polizei gehen. Im November haben sie sich bei einer Tagung kennengelernt und wollten "nicht nur reden, sondern etwas tun", wie Sabina Lorenz es formuliert. Sie seien keine "Berufsaktivistinnen".

Lorenz ist Schriftstellerin. Oerter berät Frauen in Karrierefragen. Sie sind die einzigen der Gruppe, die mit ihrem richtigen Namen für die Aktion einstehen. Einige der Frauen haben selbst sexuelle Gewalt erlebt, bei anderen sind Nahestehende betroffen, einige wollen einfach nur dazu beitragen, "der Dunkelziffer eine Stimme zu geben", sagt Daniela Oerter. Später wollen sie die Onlinetexte auch bei Polizei und Staatsanwaltschaft vorlegen.

Vorbild für die Aktion, die es in Deutschland zum ersten Mal gibt, sind Großbritannien und Frankreich, wo #ididnotreport und #jenaipasportéplaint für Aufsehen sorgten. Dort schafften es die Aktivistinnen in die großen Blätter, in Guardian, Le Monde, in die Fernsehtalkshows. Allein in Frankreich schrieben 70.000 Betroffene ihre Geschichte auf.

Auch in Italien und Spanien sind in diesen Tagen ähnliche Aktionen angelaufen. In Deutschland sind die Organisatorinnen noch weit von den französischen Rekordzahlen entfernt, doch die Aktion steht auch noch am Anfang. Mehr als 300 Einträge sind schon jetzt zu lesen. Die Initiatorinnen erhalten außerdem Mails, in denen sich Betroffene etwas von der Seele schreiben, die nicht möchten, dass ihre Bekenntnisse veröffentlicht werden.

"Durch das Schreiben bricht ein Damm"

In vielen Texten geht es um Beziehungstaten unter Erwachsenen und um Kindesmissbrauch. Viele schreiben, dass sie schweigen, weil ihnen doch niemand glauben würde. Viele berichten zum ersten Mal im Leben über die Tat, Jahre oder Jahrzehnte später. "Bei ihnen, so merkt man, bricht durch das Schreiben ein Damm", sagt Lorenz.

Damit Betroffene professionelle Hilfe finden können, stellen die Frauen immer wieder die Nummern des Frauennotrufs und weiterer Hilfsorganisationen zwischen die Einträge der Opfer (Frauennotruf München unter 089 76 37 37). Außerdem lesen sie jeden Eintrag - und zensieren ihn, sollte er zu viele Details der Tat enthalten.

Sie wollen keine Gewalt zur Schau stellen und fürchten zudem, dass unnötige Details andere Opfer traumatisieren könnten. Nur einen einzigen Eintrag hätten sie deshalb bisher nicht veröffentlichen können.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: