Internet-Edition:Worte für die Ewigkeit

Über die Jahrhunderte hinweg haben die Rektoren der Münchner Universität ihren Studenten in spannenden Reden die Welt erklärt. Jetzt lassen sich viele davon nachlesen. Doch im Jahr 1968 ist plötzlich Schluss

Von Hans Kratzer

Durch die Gründung des Deutschen Reichs anno 1871 verlor das Königreich Bayern seine Eigenständigkeit und seine Souveränität. Trotzdem wurde auch die bayerische Bevölkerung von der nationalen Begeisterung mitgerissen. Vielleicht muss man sich die damalige Euphorie so ähnlich vorstellen wie jene nach dem Mauerfall von 1989, es herrschte das Gefühl, einem epochalen Geschehen beizuwohnen.

Wie stark der Zeitenwandel von 1871 die Menschen bewegte, ist glasklar nachzuvollziehen in einer Rede des damaligen Rektors der Münchner Universität, Ignaz von Döllinger (1799-1890). "So überwältigend groß ist der Eindruck, den die Begebenheiten der jüngsten Zeit auf mich machen. So mächtig war ich ergriffen von der weltpolitischen Bedeutung", sagte Döllinger, um sogleich auf die Folgen der Reichsgründung für Bayern zu verweisen: "Der leichtlebige Süden mit seiner Liebe zur Bequemlichkeit und seinem Sich-Gehenlassen wird sich der strafferen Disziplin, der beharrlicheren Arbeitskraft des Nordens mehr und mehr anbequemen müssen."

Dass wir Döllingers visionäre These überhaupt zitieren können, ist dem Umstand zu verdanken, dass sie wie viele andere Rektoratsreden der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) in gedruckter Form erhalten geblieben ist. Die Reden der Rektoren werden im Universitätsarchiv verwahrt, wo sie freilich lange Zeit ein Schattendasein fristeten. Mittlerweile werden sie als hochinteressante Geschichtsquelle geschätzt, was kürzlich auch bei einem wissenschaftlichen Symposium an der LMU bestätigt wurde. Experten analysierten die Reden bei dieser Gelegenheit aus ihrem zeitgeschichtlichen Kontext heraus.

Als besonders interessant erweisen sich natürlich die NS-Zeit und die frühen Nachkriegsjahre. Als "reinste Kinder der Wissenschaft" bezeichnete zum Beispiel der Rektor Karl Vossler die Mitglieder der Weißen Rose, als er 1946 der studentischen Widerstandsgruppe gedachte. Schonungslos nahm er die Leitung der LMU während der Nazizeit in die Kritik: "Weder der Rektor noch der Senat noch der Studentenbund wagten es, eine Fürbitte, ein Gnadengesuch für diese reinsten Kinder der Wissenschaft laut werden zu lassen. Geholfen hätte damals eine solche Fürbitte ganz gewiss nicht. Aber vielleicht hätte sie dem Ansehen unserer Alma Mater geholfen."

Universitätsarchiv Freimann

Hüter des Archivs der Münchner Universität sowie der alten Rektoratsreden: Leiter Wolfgang J. Smolka (links) und Archivar Claudius Stein.

(Foto: Florian Peljak)

Die Universität hat mittlerweile alle erhaltenen Rektoratsreden in einer Online-Edition zugänglich gemacht. Mehr als 500 Digitalisate umfasst die Sammlung. "Dieses Projekt steht in der nationalen Wissenschaftslandschaft vergleichsweise singulär da", sagt der Historiker Hans-Michael Körner, Emeritus der LMU und Vorstand des Universitätsarchivs nicht ohne Stolz. Tatsächlich ist die Universität München nach der Technischen Universität Darmstadt die erste Hochschule in Deutschland, die ihre Rektorats- und Universitätsreden ins Internet gestellt hat.

Verantwortlicher Leiter ist der Historiker und Archivar Claudius Stein, dessen Arbeit nicht zuletzt von der Verlagerung des Archivs aus der Innenstadt hinaus nach Freimann profitiert hat. Nur deshalb konnte er das Projekt überhaupt stemmen: "Wir haben viel mehr Platz, alles ist zentral gelagert, schnell erreichbar und nicht mehr auf weit entfernte Räume verteilt." Das Archiv der LMU bewahrt ja nicht nur Redemanuskripte auf, sondern alles, was die Verwaltung der Universität, ihrer Fakultäten und Kliniken an Papier produziert: Senatsprotokolle ebenso wie Personalverzeichnisse, Disziplinar- und Promotionsakten, Studentenkarteien sowie Nachlässe, Fotografien, Flugblätter, ja sogar Transparente.

Der online präsentierte Korpus der Universitätsreden setzt im Jahr 1800 ein. Allerdings hatte schon Herzog Ludwig der Reiche in der Stiftungsurkunde von 1472 verfügt, dass jeder Rektor eine Ermahnungs-Rede an die Studenten zu halten habe. Die Reden aus dem 15. bis zum 18. Jahrhundert stehen aber aus Kapazitätsgründen noch nicht online. "Die Reden ab 1800 waren relativ gebündelt im Archiv vorhanden", sagt Claudius Stein, "man brauchte sie nur zu digitalisieren." Die Reden vor dieser Zeit sind weit verteilt und nur mit einem erheblichen Zeitaufwand zusammenzutragen. Allein die Sichtung und Digitalisierung der Reden, die jetzt auf der Seite des Universitätsarchivs eingesehen werden können, hat drei Jahre gedauert.

Internet-Edition: Deckblatt der Festrede des Rektors Ignaz von Döllinger im Jahr 1872. Es zeigt ihn in der Großen Aula während seiner Rede zur 400-Jahr-Feier der LMU.

Deckblatt der Festrede des Rektors Ignaz von Döllinger im Jahr 1872. Es zeigt ihn in der Großen Aula während seiner Rede zur 400-Jahr-Feier der LMU.

(Foto: LMU)

"In der Rektoratsrede suchte die Universität, den eigenen Standort in der Wissenschaft und in der Gesellschaft zu bestimmen und dieses Bild einer größeren Öffentlichkeit zu vermitteln", sagt Hans-Michael Körner. Für ihn haben diese Reden mit Blick auf die damalige gesellschaftliche Wirklichkeit fast seismografischen Charakter, Geschichte findet hier ihren unmittelbaren Niederschlag. Es wurde stets angestrebt, dass jeder, auch das Volk auf der Straße, die Rede verstehen sollte.

Die Rektoratsreden im Netz umschließen einen Zeitraum von gut 170 Jahren. Alle prägenden Phänomene zwischen der Ära Napoleons und den Umbrüchen von 1968 finden darin einen Niederschlag - "als programmatische Antworten der Universität auf die Zeitläufe", wie es Archivleiter Wolfgang J. Smolka formuliert. In den Wirren der 68er-Jahre ist die Tradition der Rektoratsrede in München abgebrochen.

Dieter Langewiesche, Historiker an der Universität Tübingen, glaubt nicht, dass das nur mit der damaligen Studentenbewegung zu tun hatte, welche die Universitäten zu den Verursachern der deutschen Katastrophen des 20. Jahrhunderts zählte und deren Veranstaltungen entsprechend störte und boykottierte. Langewiesche nannte bei der Rektoratsreden-Tagung in München noch einen weiteren Grund: "Universitäten wurden in dieser Zeit sehr groß und ihre Rektoren begannen wie bei Unternehmen, Geschäftsberichte vorzulegen. Leistungsbilanzen sind von dieser Zeit an gefragt gewesen, keine Bildungsreden."

Die Rektoratsreden sind online zu finden unter: www.universitaetsarchiv.uni-muenchen.de

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