Innenstadt:Wo sich München am rasantesten wandelt

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Die Fußgängerzone in der Sendlinger Straße. (Foto: Alessandra Schellnegger)
  • Keine andere Einkaufsstraße in der Münchner Innenstadt hat sich in den vergangenen Jahren so stark gewandelt wie die Sendlinger Straße.
  • 62 Läden haben sich in den vergangenen zehn Jahren in der Sendlinger Straße verändert.
  • Obwohl sich Ketten und große Konzerne ausbreiten, schaffen es auch kleine Läden zu bestehen.

Von Pia Ratzesberger

Die Sendlinger Straße atmet flach an diesem Morgen, keine Zeit zum Flanieren, vielleicht ein Kaffee, ein Croissant auf dem Weg zur Arbeit, schnell weiter, vorbei an den Schaufenstern. Die Sendlinger Straße muss noch warten auf ihre Besucher, noch ist es zu früh für die Massen, erst gegen Mittag wird sie schnaufen, unter den vollen Gehsteigen.

Wer in München wohnt, der passiert diese Meile immer wieder einmal, unter dem Torbogen hindurch, vorbei an der Asamkirche, dem Hackerhaus und dem Schlund der Hofstatt. Keine andere Einkaufsstraße in der Münchner Innenstadt hat sich in den vergangenen Jahren so stark gewandelt wie die Sendlinger Straße, Konzerne haben mit ihren Filialen mehr und mehr Grund erobert, die kleinen Läden aber trotzen ihnen.

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Filialen internationaler Firmen prägen das Bild der Fußgängerzone. Kleine Läden werden es in Zukunft noch schwerer haben.

Von Pia Ratzesberger

Magda Seiler drückt mit beiden Händen das Gitter vor ihrem Geschäft nach oben, Hausnummer 45, Mucom steht da, kurz für Munich Commerce. Wie viele Tage hat Seiler schon so begonnen, 16 Jahre sind es jetzt, damals war die Straße noch eine andere, auch die Stadt. Über den Türen ihrer vielen Nachbarn hängen nun Schilder mit Namen, wie man sie überall im Land liest, Scotch and Soda, Adidas, Butlers, Kiehls, immer mehr dieser Ketten nisten hier. 62 Läden haben sich in den vergangenen zehn Jahren in der Sendlinger Straße verändert, also fast drei Viertel aller Geschäfte.

Eine Zahl, die einem zuerst hoch vorkommen mag, die einem aber wohl schlichtweg beweist, dass ein Passant schnell vergisst. Er bedauert im ersten Moment, er erinnert sich, nostalgisch, doch nach wenigen Monaten weiß er meistens kaum mehr, welcher Laden dort verkauft hat, wo die nächste Telekom-Filiale leuchtet. Magda Seiler, schwarze Brille, schwere Ohrringe, die Stola um die Schultern geschwungen, kann sie dagegen alle noch aufzählen. Sie steht in ihrem Laden wie eine Opernsängerin auf der Bühne, nennt ein Geschäft nach dem anderen. Da sei doch zum Beispiel dieser eine Herrenausstatter gewesen, dann noch der Friseursalon, das Wäschegeschäft, dessen Schild gegenüber noch immer hängt: Lewandowski Korsetten, seit 1885.

Manchmal kommen sie sich selbst so vor, "als würden wir gar nicht existieren". Doch Magda Seiler und Martin Ringler gibt es wirklich in der Sendlinger Straße. (Foto: Stephan Rumpf)

Zu diesen Zeiten war der Quadratmeter wohl noch billiger; nach dem Krieg dann galt die Sendlinger ohnehin als anrüchiger Ort, Prostituierte warben um Kundschaft, Freier zechten an der Bar. Heute kostet der Quadratmeter im früheren Rotlichtviertel auch mit einem älteren Mietvertrag meist weit mehr als 100 Euro, Spitzenwerte liegen über 200 Euro, viel Geld, gerade für ein kleines Geschäft. Manche Inhaber haben in den vergangenen Jahren wegen dieser Mietpreise aufgegeben, andere sind in Rente gegangen, haben keinen Nachfolger gefunden; die Gründe variieren, die Folge aber ist immer die gleiche: Die Ketten sichern sich die besten Plätze. Die Traditionsgeschäfte schwinden. Und die Übrigen fürchten umso mehr, übersehen zu werden.

An manchen Samstagen laufe es richtig gut, sagt Seiler, letzte Woche zum Beispiel, am ersten Advent, schon toll. An anderen Samstagen aber, da sei es "als würden wir gar nicht existieren". Dann steht Magda Seiler zwischen all den Pullovern, Kleidern, Jacken, wie unsichtbar, während die Menge vorbeizieht. Die neuen Sneakerläden zum Beispiel würden vor allem die Jungen locken, sagt Seiler, selbst 68 Jahre alt, überhaupt seien viel mehr junge Leute unterwegs als früher. Magda Seiler verkauft Mode von Größe 38 bis 48, angefertigt auf Maß, gute Stoffe, sagt sie, knittern nicht.

Magda Seiler besitzt eines der kleinen Geschäfte, die in Zeiten von Konzernen und Onlinehandel oft übersehen werden. (Foto: Stephan Rumpf)

Vor dem wuchtigen Holzspiegel in der Ecke mustern sich vor allem Frauen mittleren Alters, die 100 bis 500 Euro für einen Pullover ausgeben wollen, die aber leider kaum mehr vorbeischlendern. Wenn, dann führen ihre Kundinnen gezielt den Laden an, mit dem eigenen Wagen, aber parken sei ja nun auch schwierig geworden, sagt Seiler, die neue Fußgängerzone helfe ihr nicht viel. Die verärgert sie eher. Draußen scheint von der sogenannten Fuzo noch kaum einer etwas mitbekommen zu haben, die Passanten laufen weiter die Bürgersteige entlang, auch wenn schon seit Juli kein Auto mehr in der Mitte fährt. Sie scheinen den Wandel nicht zu bemerken; vielleicht genauso wenig wie manch verschwundenen Laden.

Bei Leder Fischer, Hausnummer 24, weiter Richtung Marienplatz, haben sie im vergangenen Sommer zum ersten Mal seit langem die Fenster wieder offen gelassen, im ersten Stock über den Verkaufsräumen, herrlich sei das gewesen. Keine Abgase, kein Hupen. Der Geschäftsführer, Nikolaus Neusiedl, steigt die Treppen aus dem Untergeschoss herauf, gerade sind Lammfellwochen, viel Kundschaft. Er sei Münchner aus Überzeugung, miete diesen Laden seit 1983 und seiner Stadt tue Veränderung wie hier in der Straße nun einmal gut, sagt er. Ob das auch für sein Geschäft gut sei? Eine andere Frage. Zara, Mango, die ganzen Ketten hätten zwar auch immer mal wieder eine Lederjacke am Ständer, aber sicher nicht so viele, sicher nicht so gutes Leder. Und dann sei da ja auch noch die Beratung, das Gespräch.

Nikolaus Neusiedl von Leder Fischer. (Foto: Stephan Rumpf)

Gespräche nämlich, die können Internet und Konzerne nicht besser beherrschen als die kleinen Händler in der Sendlinger Straße. Die Onlineshops und Filialen führen manchmal vielleicht mehr Marken, bieten günstigere Preise, aber Reden ist schwierig. Online sowieso, in den Filialen warten keine ausgebildeten Verkäufer mehr, oft nur Hilfskräfte, nur Kassierer. Manchmal aber wollen die Kunden einfach nur sprechen, sagt Frank Friedl vom Casa 43. Er verkauft Vasen und Teller, Uhren und Halsketten, ist einer der Neuen hier in der Straße, auch nach eineinhalb Jahren träten manchmal noch Passanten ein und würden sich wundern, dass ihnen der Laden noch nie aufgefallen sei. "Ändert sich ja eh immer so viel hier", sagen sie dann. Friedl ist zwar neu, kennt aber trotzdem alle. Den Werner vom Teahaus, den Ringler vom Imbiss.

Die Sendlinger Straße ist Stadt und Land zugleich. Sie ist Großstadt, gentrifiziert, irre Mieten, Läden wie American Vintage und And Other Stories, französische Schnitte, skandinavisches Design. Aber sie ist eben auch das beschauliche Dorf mit Zurufen über die Straße, mit einem Frank, der mal eben zu Werner rüber geht und einer Familie Ringler, der zur Geburt ihres Kindes von den Nachbarn ein Strauß Blumen überreicht wird.

Martin Ringler hat das damals ziemlich gefreut, auf dem Herd zischt gerade das Fett für die Ochsenfetzen, in der umgebauten Metzgerei, Hausnummer 45, ein Mittagsimbiss. Auch er, Schiebermütze, Daunenweste, ist einer der Neueren hier. An diesem Samstag aber, dem zweiten Adventswochenende wird Ringler seinen Imbiss nicht einmal öffnen, der Samstag lohnt sich für ihn nicht, auch wenn das absurd klingt. Obwohl an den Samstagen so viele Menschen durch die Innenstadt schieben, ist das für Ringler der mit Abstand schlechteste Tag.

Die Arbeitenden haben frei, die jungen Shopper essen nicht viel, für ihn lohnt es sich manchmal eher zum Catering auszufahren, als den Laden aufzusperren, für den auch er "ziemlich viel Miete" zahlt. Und trotzdem. Ringler lächelt und klopft auf den hölzernen Stehtisch. Er habe hier einen sechsstelligen Betrag reingesteckt, die Fliesen, die Kabel, die könne er schlecht rausreißen und mitnehmen. Außerdem fühle er sich hier doch ziemlich wohl, er habe gute Nachbarn. Und damit meint er nicht die Filialen.

Es ist Mittagszeit jetzt, die Tür geht auf, geht zu, eine Bestellung, noch eine und noch eine, Ringler reicht die Tüten aus der Küche. Draußen schieben sie über die Straße, die Sendlinger Straße muss nicht mehr warten. Sie schnauft.

© SZ vom 03.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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