In Würde sterben:Das dünne Band zum Leben

Theresia und Gunter Seibt pflegten ihre Tochter viele Jahre lang zu Hause - in dem Wissen, dass Martina an einer todbringende Stoffwechselkrankheit leidet.

Monika Maier-Albang

Sie sind froh, dass das Gras noch sommerlich frisch war, als Martina starb. So konnten die Rosenblüten, die ums Grab verstreut waren, auf grünem Untergrund leuchten. Viele Freunde waren zur Beerdigung gekommen, die Sonne schien. Und so passte alles irgendwie. Obwohl Theresia und Gunter Seibt ihre Tochter verloren hatten.

In Würde sterben: Theresia und Gunter Seibt haben ihre Tochter Martina, die unter der seltenen Stoffwechselerkrankung Mukopolysaccaridose litt, die letzten zwölf Jahre in der eigenen Wohnung gepflegt.

Theresia und Gunter Seibt haben ihre Tochter Martina, die unter der seltenen Stoffwechselerkrankung Mukopolysaccaridose litt, die letzten zwölf Jahre in der eigenen Wohnung gepflegt.

(Foto: Catherina Hess)

Am 14. August ist Martina Seibt gestorben, im Alter von 37 Jahren. Die Eltern wussten schon lange, dass ihre Tochter vor ihnen gehen würde. Sie war vier, als die Ärzte "MPS" diagnostizierten - Mukopolysaccharidose, eine Stoffwechselerkrankung. Martinas Körper fehlte ein Enzym, das die langkettigen Zuckerverbindungen, die Mukopolysaccharide, in den Zellen abbaut.

Auf einem alten Foto sieht man ein Mädchen mit blondem Bubikopf, das etwas ängstlich in die Kamera blickt. Die Furcht vor Fremden habe sie damals schon gehabt, erzählt die Mutter, aber äußerlich war die Krankheit nicht zu sehen. Nur mit der Sprache war Martina hinter den Gleichaltrigen zurück; sie kam mit Zwei- oder Drei-Wort-Sätzen zurecht: "Papa Arbeit", "Christian Schule" - Christian ist der drei Jahre ältere Bruder. Der Kinderarzt aber beruhigte die Eltern, das gibt sich, sagte er: "Einstein hat auch erst mit fünf geredet".

Es gab sich nichts. Im damaligen "Kinderzentrum" an der Blutenburgstraße nahm man Haut- und Urinproben von Martina, drei Monate mussten die Eltern warten, bis das Ergebnis feststand. Theresia Seibt erinnert sich noch an jenen Julitag 1977, als ihr der Arzt gegenübersaß und zunächst nur etwas von einer Stoffwechselkrankheit erzählte. "Okay", so schoss es ihr durch den Kopf, "eine Diät, dann passt das schon".

Dann fiel das Wort Sonderschule. Nun ja, auch damit werde man zurechtkommen, sagte sich Theresia Seibt. Sie bekam den Bescheid in die Hand gedrückt, in dem es heißt: "Das Kind, Seibt, Martina,... leidet an einer Mucopolysaccharidose Typ III. Diese Krankheit hat eine Behinderung zu 100% zur Folge." Ihre Tochter, fügte der Arzt noch an, "wird nicht älter als 16".

Auf 66.000 Geburten kommt ein Kind mit Martinas Krankheit

Wie sie danach den Weg nach Hause und die Kraft fand, ihrem Mann die Nachricht zu überbringen, weiß Theresia Seibt nicht mehr. Auch damals saßen sie, wie jetzt, während die Seibts ihre Geschichte erzählen, am Tisch in der gemütlich eingerichteten Altbauwohnung. Es gab noch kein Internet und keine Broschüre über diese Krankheit mit dem schwierigen Namen.

"Wir konnten sie anfangs ja nicht einmal schreiben", sagt die Mutter. Heute ist zumindest das einfacher. Es gibt die "Gesellschaft für Mukopolysaccharidosen" mit Sitz in Aschaffenburg. Sie hat Hefte herausgegeben, in denen die Krankheit in ihren sieben Varianten erklärt wird. Martina hatte Typ III, der auch Morbus Sanfilippo heißt, benannt nach dem Arzt, der die Erkrankung 1963 zum ersten Mal beschrieben hat.

Morbus Sanfilippo ist die häufigste MPS-Variante. Auf 66.000 Geburten in Deutschland kommt ein Kind mit MPS Typ III. Insgesamt leben in der Bundesrepublik zur Zeit rund 1000 Menschen, die an MPS erkrankt sind. Wobei niemand sagen kann, wie hoch die Dunkelziffer ist. Gerade Martinas Typ-III-Variante würden die Ärzte oft erst spät erkennen, sagt Carmen Kunkel, Geschäftsführerin der MPS-Gesellschaft. "Viele Eltern haben eine Odyssee hinter sich, wenn sie zu uns kommen." Im Gegensatz zu anderen MPS-Varianten fallen Kinder mit Morbus Sanfilippo äußerlich nicht auf. Sie lernen nur langsamer laufen und sprechen, wirken hyperaktiv oder "ungezogen".

In der Fachwelt gehört MPS zu den sogenannten "orphan diseases", den verwaisten Krankheiten. Diese Krankheiten sind so selten, dass die Pharmaindustrie lange Zeit nur wenig in die Forschung investiert hat. Erst seit rund zehn Jahren bietet eine EU-Verordnung Anreize für Pharmaunternehmen. Seitdem werden für drei MPS-Varianten Enzymersatz-Therapien erprobt. Bei der Typ I-Variante verspricht auch eine Knochenmarktransplantation Hoffnung auf ein längeres und besseres Leben. Gesicherte Daten über mögliche Erfolge der Behandlung gibt es allerdings noch nicht.

"Sie ist einfach eingeschlafen"

Für die Eltern ist die Kleinkind-Phase besonders anstrengend. Die Kinder zerren an allem, was sie zu fassen kriegen, stecken alles in den Mund: Gras, Besteck, die Tischdecke. Martina hatte damals tagsüber geschrien und in der Nacht geschrien, erzählt Theresia Seibt. Und sie war unentwegt in Bewegung.

In Würde sterben: Martina wurde 37 Jahre alt. Zu ihrer Beerdigung reisten sogar Mitglieder der MPS-Gesellschaft aus Kärnten an.

Martina wurde 37 Jahre alt. Zu ihrer Beerdigung reisten sogar Mitglieder der MPS-Gesellschaft aus Kärnten an.

(Foto: Catherina Hess)

Der Kindergarten, in den Martina ging, fühlte sich überfordert. Also war das Mädchen den ganzen Tag daheim. Im Hof hatten die Seibts damals ein Stück Grund eingezäunt, da konnte Martina zumindest im Kreis laufen. Mehrmals täglich musste sie umgezogen werden, "die Durchfälle waren schlimm", erzählt die Mutter. Vor allem aber tat ihr ihr Sohn leid, "weil sich immer alles um Martina drehte". Und weil die Freunde zu ihm sagten: "Was hast du für 'ne blöde Schwester."

Sechs Jahre haben die Seibts ihre Tochter zu Hause versorgt, dann fanden sie einen guten Platz für sie in einer Wohngruppe der Diakonie in Neuendettelsau. In dieser Zeit war Martina nur wochenweise daheim. Die letzten zwölf Jahre ihres Lebens hatten die Eltern sie wieder zu sich geholt. Da konnte ihre Tochter schon nicht mehr laufen und sprechen. Aber sie habe gelächelt und gejuchzt, wenn sie die Eltern sah, erzählt Theresia Seibt.

Jeden Morgen um acht versorgte sie Martina über eine Sonde mit Essen und Trinken. Danach verbrachte ihre Tochter Zeit auf dem Balkon, bevor sie wieder ins Bett getragen, gewaschen, ernährt werden musste. Ein Leben nach der Uhr auch für die Eltern. Erst als Martina tot war, fiel Theresia und Gunter Seibt auf, dass sie seit Jahren nicht mehr gemeinsam durch Pasing spaziert waren.

Gunter Seibt hat zum Treffen extra ein T-Shirt mit dem Logo der MPS-Gesellschaft angezogen. Der Verein habe ihnen Halt gegeben, sagen die Seibts. Über die Selbsthilfegruppe und die Kuren auf Usedom haben sie sich ein Netzwerk aufgebaut. Einmal im Jahr organisiert die MPS-Gesellschaft eine viertägige "Familienkonferenz"; an die 300 Menschen kommen dann zusammen, Eltern mit Kindern, die ein ähnliches Schicksal teilen. Manchen hilft das Gespräch mit den anderen. Manche halten diese Treffen aber auch kaum aus, weil sie Kinder sehen, denen es schon so viel schlechter geht als ihrem eigenen.

Es sei schon ein merkwürdiger Zustand, sagt auch Theresia Seibt: dieses Wissen darum, dass dein Kind vor dir sterben wird. Aber niemand kann einem sagen, wie kurz das kurze Leben sein wird. Bei vielen Kindern, die sie über die MPS-Gesellschaft kennen gelernt hatten, standen Theresia und Gunter Seibt schon am Grab. Manchmal, sagt sie, sei ihr in solchen Momenten durch den Kopf geschossen: "Aber wir doch nicht!"

Zarte Rosenblättern auf grünem Gras

Martinas 37 Lebensjahre waren für die Eltern ein Geschenk. Zum einen, weil nur wenige MPS-Kinder so alt werden. Und weil die Seibts, trotz allem, das Leben mit ihrer Tochter als beglückend empfanden. Am 14. August, um 19.35 Uhr, hat Martina aufgehört zu atmen. Martina hatte einen Krampfanfall erlitten.

Eine Nacht lang wachte die Mutter am Bett der Tochter. Der Tag kam und mit ihm die Angst vor der nächsten Nacht. "Aber sie hat es uns leicht gemacht", sagt Theresia Seibt, "sie ist einfach eingeschlafen". Sie konnte noch Pasings Pfarrer Albert Zott zur Krankensalbung rufen.

85 Beileidskarten haben die Seibts nun auf dem Tisch in Martinas Zimmer aufgereiht. Eine Kreuz aus Glas, das Martinas Namen trägt, bekamen sie geschenkt von einer MPS-Familie, die in diesem Jahr auch ihre 17-jährige Tochter verloren haben. Bis aus Kärnten reisten Vereinsmitglieder zur Beerdigung an. Eine Familie hat das Grab fotografiert und den Seibts ein Album geschenkt. Zarte Rosenblättern auf grünem Gras sind auf dem Bildern zu sehen.

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