Hospiz in München:"Es hilft mir nicht, verbittert zu sein"

Franz-Thomas Hadryan weiß, dass er bald sterben wird. Der 70-Jährige leidet an der Muskelkrankheit ALS, seine Arme kann er kaum mehr bewegen. Vor zwei Jahren ist er noch Taxi gefahren - nun ist er in ein Münchner Hospiz gezogen. Und versucht, das Leben noch einmal zu genießen.

Sven Loerzer

Sterbehospiz

Franz-Thomas Hadryan fühlt sich geborgen im Johannes-Hospiz der Barmherzigen Brüder, die Pflegekräfte gehen, so weit sie können, auf seine Wünsche und Bedürfnisse ein.

(Foto: Jakob Berr)

Auf den ersten Blick hat sich Franz-Thomas Hadryan, 70, nicht verändert. Dabei hat das letzte Dreivierteljahr sein Leben verändert: Er musste vor Kurzem umziehen und ist nun angekommen "auf der letzten Station vor der allerletzten Reise", wie Franz-Thomas Hadryan erzählt. Er sitzt mit dem Rücken zum Fenster, hinter dem die Herbstsonne letzte Wärme verströmt. Vor ihm steht eine Glaskanne mit Tee und einem Strohhalm darin.

Nun, da er nicht einmal mehr die Arme heben kann, ist er ins Johannes-Hospiz der Barmherzigen Brüder gezogen, nach fast 29 Jahren in derselben Wohnung. Mit der Schwäche in den Armen hatte alles angefangen. Vor eineinhalb Jahren musste er seine Arbeit als Taxifahrer aufgeben. "Jetzt bin ich von den Schultern abwärts total hilflos, die Hände kann ich vergessen." Es sei wie bei einer Lampe, deren Batterie immer schwächer wird.

Franz-Thomas Hadryan leidet an Amyotropher Lateralsklerose (ALS). Erst über die Deutsche Gesellschaft für Muskelkranke erfuhr Hadryan, was das bedeutet. Jährlich erkranken ein bis zwei von 100.000 Menschen daran. Die unheilbare Krankheit zerstört die Nervenzellen, die für die Muskelbewegung verantwortlich sind, und führt deshalb zu fortschreitender Lähmung und Muskelschwund. "Man spürt jede Berührung, aber man kann sich nicht mehr bewegen."

Auch die Atemmuskulatur ist betroffen, ein längeres Gespräch strapaziert ihn enorm, nachmittags und nachts verschafft ihm die Sauerstoffmaske etwas Erleichterung. Doch das Atmen fällt immer schwerer. In seiner Patientenverfügung hat Hadryan festgelegt, dass er keine künstliche Beatmung will. "Dankeschön", sagt er, "dann steige ich aus." Vielleicht in zwei oder drei Monaten, "wie lange es noch geht, kann man nicht sagen".

Wenn Erinnerungen zurückkommen

Der elektronische Bilderrahmen, der eine zufällige Reihenfolge von 320 Bildern des früheren Hobbyfotografen präsentiert, holt Erinnerungen zurück. "Da ist Amazonien", sagt er und lacht. Der Eisbach im Englischen Garten. Der Herbst mit der Grünwalder Brücke bei Pullach, dann wieder Bilder von Wanderungen in den Bergen. Alles vorbei. "Gegen meine Krankheit gibt es keine Tabletten, ich bin schon fast eine lebendige Mumie." Die Mitarbeiter des Hospizes seien "warmherzig und unglaublich zuvorkommend", und Franz-Thomas Hadryan hat erstaunt festgestellt, dass auch der Chef, Hospizleiter Gregor Linnemann, selbst erscheint, um ihm das Essen zu geben oder bei der Pflege zu helfen. "Das Gefühl, als Schwerkranker in der Obhut lieber Menschen zu sein, das berührt mich wirklich."

So hat auch die Angst vor der Hilflosigkeit nachgelassen, die er in der eigenen Wohnung erlebt hat, als er einmal zweieinhalb Stunden am Boden lag, bevor es ihm gelang, mit dem Fuß das Telefon zu betätigen, um einen Freund zu alarmieren. Im Hospiz hat er nun Alarmknöpfe im Bett und unter dem Tisch, die er mit dem Fuß auslösen kann.

Für Linnemann, der sich seit mehr als 15 Jahren in der Hospizarbeit engagiert und das Johannes-Hospiz seit der Eröffnung vor acht Jahren leitet, ist es nicht der erste ALS-Kranke, den das Haus versorgt. "Wenn ich eine Krankheit für mich ausschließen könnte, dann wäre es ALS." Die Betreuung ist intensiv, "wir sind die ausführenden Organe". Der Alltag richtet sich nach den Wünschen und Bedürfnissen des Kranken. Doch obwohl das Hospiz gegenüber einem Pflegeheim "privilegiert" sei, könne es bei zwölf Plätzen nur einen ALS-Patienten versorgen. Nicht nur für sie gibt es zu wenige Plätze. "Wir brauchen Strukturen, die hospizliches Arbeiten sowohl zu Hause als auch in Pflegeheimen ermöglichen."

Im Umgang mit der Krankheit, die immer weitere Einschränkungen mit sich bringt, steht Franz-Thomas Hadryan auch das Palliativteam des Interdisziplinären Zentrums am Klinikum der Universität München zur Seite. Unterstützung bekommt er auch noch vom 1991 gegründeten ambulanten Hospizdienst "Dasein". Ein erfahrenes Team aus haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitern berät Schwerstkranke und Sterbende, um ihnen zu ermöglichen, ihr Leben bis zuletzt nach ihren Wünschen zu gestalten.

Die Sozialpädagogin Karen Wienholt von "Dasein" hat Hadryan beim Schriftverkehr mit Ämtern und bei Problemen mit der Pflegekasse geholfen. Ein ehrenamtlicher Helfer besucht ihn regelmäßig und hat dem einst leidenschaftlichen Wanderer eine Silberdistel vom Spitzingsee mitgebracht. "Wenn ich nicht mehr in die Berge kann, dann kommen die Berge eben zu mir", sagt Hadryan.

Eine letzte Reise in die Berge

Der Diplom-Ökonom und Bilanzbuchhalter hat in der Stahlindustrie gearbeitet, bevor er vor 30 Jahren als Spätaussiedler nach München kam. Der Versuch, sich mit einer chemischen Reinigung selbständig zu machen, missglückte und führte ihn ins Privatinsolvenzverfahren. Seit zwei Jahren hat er nun keine Schulden mehr, aber auch keine Ersparnisse. Und weil er nicht mehr als Taxifahrer Geld verdienen kann, bekommt er die staatliche Grundsicherung im Alter. Denn die Rente aus seiner Angestelltenzeit reicht nicht zum Leben. Aber Wünsche hat er ohnehin keine mehr, der lang gehegte Traum, einmal den Kilimandscharo zu besteigen, "bleibt im Kopf".

Mit seiner Krankheit setzt sich der 70-Jährige sehr gefasst auseinander. "Es hilft mir nicht, verbittert zu sein, dann geht es mir nur noch schlechter." Im Durchschnitt liege die Lebenserwartung mit ALS bei fünf Jahren, hat er im Internet recherchiert. Viel Zeit bleibt ihm nicht mehr, auch wenn es mehr ist als der Durchschnitt anderer Schwerkranker, die im Hospiz 21 Tage leben. Linnemann betont: "Auch wenn hier gestorben wird, sind wir ein Haus, in dem verdammt viel Leben stattfindet."

Franz-Thomas Hadryan hat es gern, wenn die Tür zu seinem Zimmer offensteht, weil er Stimmen hört und sich nicht allein fühlt. "Ich habe keine Angst vor dem Tod", sagt er, "ich war schon einmal auf der anderen Seite und bin wieder zurückgeschickt worden." Beim Schlittschuhlaufen fiel er als Jugendlicher in ein Eisloch und erlitt schwere Unterkühlungen. Auf der Intensivstation sah er sich selbst im Bett liegen, die Eltern und der Arzt um ihn herum. Als er sich auf das Fenster zu bewegt habe, hätte ihm eine Gestalt mit engelhaften Zügen ein Zeichen gegeben, zurückzukehren. Und so ist er überzeugt, "dass da etwas sein muss auf der anderen Seite".

Das gibt ihm die Stärke, sogar noch anderen im Hospiz beizustehen. Etwa dem Mann, den das Sterben seiner schwer krebskranken Frau unendlich traurig machte. Hadryan sprach mit ihm darüber, dass es seine Frau belaste, wenn sie sehe, wie traurig er sei. Stattdessen solle er vielmehr an die sonnigen Zeiten mit seiner Frau zurückdenken, das gebe Kraft, ihm, wie ihr. "Zwei Tage später kam er zu mir, um mir zu sagen, dass seine Frau nun eingeschlafen sei", erzählt Hadryan.

Für sein Begräbnis hat er schon vorgesorgt. Mit Jeans, Wanderschuhen, Flanellhemd und Jacke will er seine letzte Reise antreten: "Sodass ich in die Berge passe." Er will verbrannt werden, seine Asche soll in der "Oase der Ewigkeit" beigesetzt werden, "in der Schweiz, unter einer Almwiese mit vielen Blümchen, weil ich da noch nicht war". Er empfinde keine Traurigkeit, dass er nicht mehr auf anderem Wege in die Schweiz komme. Er warte nur noch auf das letzte Zeichen, dass das Ende kommt.

Dann deutet er auf den elektronischen Bilderrahmen, auf ein Bild, wo die Sonne durch den Regen strahlt: "Hier fahre ich auf dem Regenbogen in den Himmel."

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