Gentrifizierung im Lehel:In diesem Viertel gibt es nichts mehr zu retten

Gentrifizierung im Lehel: Elfriede Manz führt seit fünf Jahrzehnten einen kleinen Laden im Lehel.

Elfriede Manz führt seit fünf Jahrzehnten einen kleinen Laden im Lehel.

(Foto: Robert Haas)

Die Gentrifizierung im Lehel macht nicht einmal vor dem Kloster halt. Und auch den Laden von Elfriede Manz dürfte sie eines Tages erwischen.

Von Anna Hoben

Am Abend um halb acht kommt die Gentrifizierung in den Laden spaziert. Ein junger Mann, Steppjacke, runde Brille, will seine Hosen und Hemden abholen, er hat auch gleich eine neue Ladung Hemden zum Reinigen mitgebracht. Zwei Tage habe er sie nicht gesehen, sagt er zu Elfriede Manz, Sorgen habe er sich gemacht. Die Frau hinterm Verkaufstresen, weiße Haare, verschmitztes Gesicht, winkt ab.

Dann fragt sie den jungen Mann: "Wohnen Sie auch im Lehel?" Er nickt. "Ein Zugereister?" Neugier in der Stimme, kein vorwurfsvoller Ton. Nein, sagt der Hemdenmann trotzdem leicht entrüstet, in München geboren, in Eichenau aufgewachsen, jetzt wohnhaft im Lehel. Ganz so einfach, ganz so eindeutig ist dann eben doch alles nicht, mit dem Zuzug und den Alteingesessenen, mit der Gentrifizierung.

Das Lehel rund um die St.-Anna-Kirche ist vermutlich das einzige Dorf auf der Welt mit U-Bahn-Anbindung. Ein Dorf deshalb, weil es sich so heimelig anfühlt hier und nicht wie ein Schickeria-Viertel. Ein Dorf deshalb, weil die St.-Anna-Kirche in der Mitte eine unerschütterliche Ruhe ausstrahlt. Ein Dorf auch deshalb, weil Elfriede Manz hier seit fünf Jahrzehnten verlässlich hinterm Verkaufstresen ihres Ladens steht.

Das Lehel ist immer noch ein Dorf, obwohl vieles verschwunden ist, was einst den dörflichen Charakter des Viertels ausgemacht hat. Es ist aber auch der Ort, an dem die Schattenseiten einer wachsenden Großstadt am dunkelsten sind. Der Ort, an dem der Münchner Mietmarkt am verlässlichsten verrückt spielt.

Nirgendwo sind die Durchschnittsmieten höher als im Bezirk Altstadt-Lehel. Diese Woche hat der Stadtrat es deshalb abgelehnt, die Gegenden St.-Anna-Platz und Lehel-Süd zu Erhaltungssatzungsgebieten zu erklären. Beide haben den Status einmal besessen, rund um den St.-Anna-Platz galt die Satzung bis 2004. Und heute? Gibt es nach Ansicht der Stadt im Lehel kein schützenswertes Milieu von Alteingesessenen mehr. Die Gentrifizierung, so heißt es aus dem Planungsreferat, sei schon zu weit fortgeschritten.

Wer aus der U-Bahn-Station kommt und ein paar Schritte die Triftstraße entlang geht, landet bei Elfriede Manz. Ihr Laden ist der Mittelpunkt des Viertels. Ein Nachbarschaftladen, wie jeder ihn gern um die Ecke hat. Auf wenigen Quadratmetern gibt es Zigaretten, Geschenkpapier, Schulhefte, Kerzen, Bierkrüge, Weihrauch und Glubschis, diese Kuscheltiere mit grotesk großen Kulleraugen. Dazu natürlich Zeitungen und Zeitschriften, von der Zeit bis zur Jungen Freiheit, von der Freizeitrevue über die deutsche Ausgabe der Satirezeitschrift Charlie Hebdo bis zum Kunstblatt Art. Eine Annahmestelle für zu reinigende Kleider ist ihr Laden außerdem.

Am 1. Februar 1966 hat Elfriede Manz ihr Geschäft eröffnet, damals auf der gegenüberliegenden Straßenseite. 1982 der Umzug, einmal über die Straße. Sie ist jetzt 83 Jahre alt, ans Aufhören will sie gar nicht denken, "erstens brauch' ich das Geld", sagt sie, "und zweitens meine Leut'". Die Begegnungen, das Plaudern, "nur für Klatsch bin ich nicht zu haben". Langweilig wäre ihr, wenn sie nicht mehr arbeitete, "wenn ich 14 Tage am Strand liegen müsste, da würd' ich ja eingehen". Was hat sich verändert?

Gentrifizierung im Lehel: Die St.-Anna-Kirche ist der sichtbare Mittelpunkt des Viertels.

Die St.-Anna-Kirche ist der sichtbare Mittelpunkt des Viertels.

(Foto: Robert Haas)

In diesem Stadtviertel, das gesprochen wird wie eine Aufforderung zum Freundlichsein: "Lächl!". Da fängt es ja schon an. "Es sagt keiner mehr Lächl", bedauert Elfriede Manz. Sie kann aus dem Stegreif sämtliche Geschäfte, Kneipen und Einrichtungen aufzählen, die es früher gegeben hat. Sie erinnert sich an Milchläden, wo die Milch noch geschöpft wurde. An Kinos, wo heute Banken sind. An Lebensmittelgeschäfte mit Schubladen für Salz und Mehl.

Heute gibt es Cocktailbars, spezialisiert auf seltene Rumsorten. Ein Getränkemarkt ist Büros gewichen. Es gab ein Fahrradgeschäft, eine Wäscherei. Wo Friseure heute Haare schneiden, schnitt der Metzger einst Aufschnitt. Sechs Metzger hat es gegeben, heute gibt es eine "Butchery", benannt nach dem englischen Wort für Metzgerei.

Elfriede Manz könnte noch lange so weitermachen, aber was soll das bringen? Es ist, wie es ist, und Frau Manz ist keine Früher-war-alles-besser-Sagerin. Natürlich gebe es noch Alteingesessene, natürlich gibt es auch noch Wohnungen mit normalen Mietpreisen. "Aber das Lehel ist entdeckt worden. Die Häuser sind die alten, nur die Leute sind anders." Vor 150 Jahren wohnten Wäscher und Tagelöhner hier.

Diese Frau ist die Seele des Lehel

Noch in den Sechzigerjahren gab es viele Handwerksbetriebe in den Hinterhöfen: Schlosser, Keramiker, Messerschleifer. Elfriede Manz' Mann hatte eine kleine Schreinerei. Als in den Achtzigern an der Widenmayerstraße "Meister Eder und sein Pumuckl" gedreht wurde, kamen die Filmleute immer zu ihm rüber und liehen sich Werkzeug aus. Und jetzt? "Das alte Publikum ist weggestorben, es ist international geworden", sagt Elfriede Manz. "Selbst der Pfarrer ist ein Preuße."

Es gebe jetzt viele reiche Familien, "mit erstaunlich vielen Kindern". Sie findet das überhaupt nicht schlimm, sie staunt nur manchmal: "Eine Wohnung kostet 1600 Euro, und die Leute zahlen das. Sie reißen sich drum - eine Sache von Angebot und Nachfrage." So lange sie kann, macht Elfriede Manz einfach weiter wie immer. Zeitungen und Zigaretten verkaufen, Schwätzchen halten, beim Hans von Buon Appetito einen Kaffee trinken, auch sein Feinkostladen ist seit Jahrzehnten da. Mit einem iranischen Stammkunden diskutiert sie über Gott und die Welt, gerade ackern sie gemeinsam ein Heft über den Islam durch.

Zu Manz kommen sie alle: der Unternehmensberater, der Mediendesigner, der Zeitungen und Magazine für 35 Euro erwirbt, und die mittelalte Frau, die sich beschwert, dass die Zeitschrift Freizeitspaß wieder ausverkauft ist. Elfriede Manz sagt: "Man versucht es eben zusammenzuführen." Vor ein paar Jahren war sie einmal länger krank. Da haben ihre Stammkunden ein Fotoalbum für sie gestaltet. Jeder einzelne ließ sich in ihrem Laden fotografieren, das Buch wurde fünf Zentimeter dick.

"Sie sind die Seele des Lehel" schrieben sie, "ein Fels in diesem Viertel, wir vermissen Sie." Von Elfriede Manz sind es nur ein paar Schritte zum St.-Anna-Platz. Dort ist am Donnerstag immer Bauernmarkt. Äpfel vom Bodensee, Kuchen wie von Oma, Käse. Ein Gentrifizierungskind kommt an den Bratwurststand und piepst: "Ich bin Vegetarier und möchte bitte ein Brötchen nur mit Ketchup." Verwirrter Wurstverkäufer: "Wos mogst? A Semmel?" Zehn Meter weiter erzählt ein Mann in Anzug und Krawatte etwas vom "größten Risiko für die Firma" in sein Smartphone.

In der Begründung des Planungsreferats gegen die Erhaltungssatzung heißt es: "Die Bevölkerung des untersuchten Bezirks gehört nicht zu den einkommensschwachen Haushalten." Ihre Kaufkraft übersteige bei Weitem den städtischen Durchschnitt. Wer also, so die implizierte Frage, soll hier überhaupt noch vor Luxussanierungen geschützt werden? Es ist leicht, die Dinge zu übersehen, die noch geblieben sind vom alten Lehel.

Vom St.-Anna-Platz geht man wieder nur ein paar Schritte, dann landet man bei Pater Markus. Der 79-Jährige ist Franziskanermönch im Kloster St. Anna, er sagt: "Wir leben im Verborgenen." Üblicherweise wechseln Franziskaner immer wieder den Wohnort; weil Pater Markus als Lehrer gearbeitet hat, durfte er bleiben - 59 Jahre lang. Er kann viel erzählen vom Leben in einem Bettelorden, mitten in einer der wohlhabendsten Viertel der Stadt.

Gentrifizierung im Lehel: Pater Markus wohnt seit 59 Jahren im Lehel und sagt: "Früher war es einfacher und gemütlicher."

Pater Markus wohnt seit 59 Jahren im Lehel und sagt: "Früher war es einfacher und gemütlicher."

(Foto: Robert Haas)

Die Gentrifizierung hat längst auch auf das Kloster übergegriffen, "unser Wandel ist symptomatisch für den des Viertels", sagt Pater Markus. Weil der Orden sich die Sanierung nicht leisten konnte, hat er vor zehn Jahren einen Teil des Gebäudes einem Bauträger überlassen. Wo früher der Speisesaal der Mönche war, sind heute Luxuswohnungen. Aus seinem Zimmerfenster schaut Pater Markus direkt zu ihnen. Freilich haben sich auch die Klosterzellen über die Jahre gewandelt. "Als ich einzog, gab es eine Dusche für 20 Mann. Heute hat jeder ein Zimmer mit Schlaf- und Wohnbereich und eigener Nasszelle."

Wenn Pater Markus über den Wandel des Lehel redet, betont er, dies "ohne Wertung" zu tun. Und sagt dann irgendwann doch, dass er es bedaure. "Eine Stadt, die sich nicht verändert, erstickt. Aber ob dieser Gesichtswechsel gut ist?" Früher sei das Leben im Lehel einfacher und gemütlicher gewesen; heute erlebe er es als "überspitzt gesagt, etwas snobistisch". Eines Tages könnte es die Seele des Viertels treffen.

Auch das Haus, in dem Elfriede Manz ihren Laden hat, soll irgendwann saniert werden. Was das für sie bedeutet, weiß sie noch nicht. "Aber vielleicht ist es ja gut, dass ich mal aufhören muss." Wenigstens die Franziskaner müssen sich über steigende Mieten und eine drohende Vertreibung keine Sorgen machen. Vor 15 Jahren haben sie das Kloster gekauft, für das sie zuvor nur ein Nießrecht besaßen. Jetzt sind sie die Eigentümer. Pater Markus, so viel steht fest, wird bis an sein Lebensende im Lehel bleiben. Und darüber hinaus. Die verstorbenen Brüder werden in einer Gruft im Haus bestattet.

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