MTU:Wie Blinde bei der Krebsvorsorge helfen

MTU: Mit ihren Händen und Fingerspitzen sieht Andrea Windbichler in ihre Patientinnen hinein.

Mit ihren Händen und Fingerspitzen sieht Andrea Windbichler in ihre Patientinnen hinein.

(Foto: Catherina Hess)

Andrea Windbichler ist Münchens erste Medizinische Tastuntersucherin. Sie ist von Geburt an blind - und gerade deshalb für den Job geeignet.

Von Sara Peschke

Zentimeter für Zentimeter arbeiten sich die Fingerspitzen über die Haut, immer zwei Schritte vor, dann mit ein wenig Druck in die Tiefe. Sie tanzen den "MTU-Walzer", so nennt es Andrea Windbichler, der diese Hände gehören, die sich langsam und zielstrebig über die Brust einer Frau bewegen. Windbichler, 34, sitzt auf einem Hocker neben der Liege, den Blick zur Wand gerichtet. Sie sieht nicht mit den Augen, was sie dort tut, aber sie kann tief hineinblicken in die Frau vor ihr, tiefer als viele andere.

Andrea Windbichler ist von Geburt an blind, sie erkennt Schatten und ein paar Umrisse, mehr nicht. Und sie ist Münchens erste Medizinische Tastuntersucherin (MTU). In einer etwa dreiviertelstündigen Sitzung tastet sie die Brüste und Lymphknoten ihrer Patientinnen nach kleinsten Veränderungen im Gewebe ab, gutartigen wie bösartigen. Sie sagt: "Ich kann mir länger Zeit nehmen als ein Arzt, der oft nicht mal fünf Minuten für die Tastuntersuchung im Rahmen der Brustkrebsvorsorge hat."

Einer Studie zufolge finden MTUs etwa 30 Prozent mehr und deutlich kleinere Veränderungen im Gewebe als Gynäkologen. Weil sie mehr Ruhe für die Untersuchung haben, aber auch weil sie ein besonderes Fingerspitzengefühl besitzen. Diese Erkenntnis traf den Duisburger Gynäkologen Frank Hoffmann vor ein paar Jahren unter der Dusche wie ein Blitz.

"Wenn die Tastuntersuchung die Basis der Brustkrebsfrüherkennung ist, würden Blinde mit ihrem besonders gut trainierten Tastsinn besonders qualifiziert sein, eine solche Untersuchung durchzuführen", sagt der Arzt. Er gründete "Discovering Hands", ein Sozialunternehmen, das blinde und sehbehinderte Frauen zu Medizinischen Tastuntersucherinnen ausbildet. Sie sollen, so Hoffmanns Idee, als eine Art zertifizierte Dienstleisterinnen in Arztpraxen und Kliniken bei der Brustkrebsfrüherkennung helfen.

"Wir dürfen keine Diagnose stellen", sagt Andrea Windbichler, "sondern wir liefern Befunde, mit denen die Ärzte dann arbeiten können." Sie betont mehrfach, dass ihre Untersuchungsmethode keine Mammografie ersetzen könne, aber: "Die Krankenkassen zahlen Frauen ab 50 Jahren die Röntgenuntersuchung nur alle zwei Jahre. Das ist ein großer zeitlicher Abstand, in dem sich bösartige Tumore bilden können." Vor allem für das Zwischenjahr sei die intensive Tastuntersuchung sinnvoll. 16 gesetzliche Krankenkassen übernehmen mittlerweile die Kosten von knapp 50 Euro pro Sitzung.

Eine der Ärztinnen, bei denen Windbichler in München arbeitet, ist Karin Melcher. Die Gynäkologin hatte schon vor einiger Zeit von "Discovering Hands" gehört und sich um eine MTU beworben, aber erst in diesem Jahr kam Windbichler zu ihr. "Ihre Arbeit ist eine gute Ergänzung zu den Untersuchungsmethoden der Schulmedizin", sagt Melcher. Es gebe immer wieder Frauen, die eine Mammografie nur mit großen Schmerzen ertrügen oder ganz ablehnten. "Für die und für jüngere Frauen sind MTUs eine große Hilfe."

Rund 70 000 Frauen erkranken in Deutschland jährlich an Brustkrebs, für etwa 18 000 von ihnen endet die Krankheit tödlich. Werden bösartige Veränderungen früh erkannt, erhöht das die Heilungschancen erheblich. Trotzdem hätten viele Frauen Respekt davor, sich regelmäßig selbst abzutasten, sagt Windbichler: "Auch aus Angst, dass sie etwas finden."

Manchmal fühlt sie sich in ihrem Job wie eine Psychologin. Sie hört sich die Lebensgeschichten und Sorgen der Patientinnen an, gibt Ratschläge, oder einfach nur das Gefühl von ein bisschen Nähe und Fürsorge. Sie hört der Stimme der Frau sofort an, wenn diese wegen der Untersuchung beunruhigt ist, "aber in den meisten Fällen kann ich zum Glück Entwarnung geben", sagt sie.

Blinde Frauen sind oft unzufrieden in ihrem Job - oder haben keinen

Grundkenntnisse in Psychologie sind ein Bestandteil der neunmonatigen Qualifizierung zur MTU, neben medizinischen Fächern wie Anatomie oder Histologie. Das Tasten mithilfe von speziellen Klebestreifen zur Orientierung lernen die Frauen erst an Silikonmodellen, dann an Menschen. Es habe sie erstaunt, wie unterschiedlich sich Brüste in der Realität anfühlen, sagt Windbichler. "Man braucht für diesen Job viel Erfahrung und darf keine Berührungsängste haben", sagt sie.

Auch deshalb ist es nicht ganz einfach, geeignete MTUs zu finden, bislang gibt es in Deutschland knapp 30. Windbichler ist froh, dass sie vor gut sieben Jahren von dieser Möglichkeit gehört hat. Vor ihrer Ausbildung arbeitete sie als Telefonistin und Schreibkraft in einem Büro, "ziemlich langweilig".

Wie ihr geht es vielen blinden und sehbehinderten Frauen: Sie sind unzufrieden in ihrem Job - oder haben keinen. Frank Hoffmann, der Gründer von "Discovering Hands", sagt: "Wenn es uns gelingt, auf der einen Seite die Brustkrebsfrüherkennung zu verbessern, auf der anderen Seite blinden Menschen ein neues Tätigkeitsfeld zu geben und zugleich deutlich zu machen, dass eine Behinderung auch eine Begabung sein kann, dann haben wir ein großes Ziel erreicht."

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