Heiligabend mal anders:Münchner Festgeschichten

Selten sind sich die Menschen so einig wie an Weihnachten: Heiligabend verbringt man zu Hause, am besten mit der Familie. Und doch gibt es die, die am 24. Dezember etwas ganz anderes machen - sei es freiwillig oder aus der Not heraus geboren

Die meisten Menschen in dieser Stadt werden den Sonntag in einem Wohnzimmer verbringen. Viele wohl auch mit einem geschmückten Baum, mit Last Christmas und Flötenspiel. Davor waren sie vielleicht noch einmal kurz in der Stadt, für die letzten Einkäufe, die letzten Geschenke. Ansonsten gilt: Weihnachten = Zuhause. Doch manche verbringen Weihnachten eben auch ganz anders. In der Zahnklinik zum Beispiel. Am Skilift. In der Boazn oder an der Popcorntheke. Manchmal freiwillig, weil sie kein Aufhebens mehr machen wollen, weil sie ohnehin nicht Weihnachten feiern. Manchmal auch unfreiwillig. Sechs Geschichten vom anderen Weihnachten in München.

Auf der Tanzfläche

Heiligabend mal anders: Jeanette Müller und ihr Lebensgefährte Daniel Juling veranstalten am 24. Dezember einen Tanzabend.

Jeanette Müller und ihr Lebensgefährte Daniel Juling veranstalten am 24. Dezember einen Tanzabend.

(Foto: Robert Haas)

Während fast alle besinnliche Weihnachtslieder singen, werden Jeanette Müller und ihr Lebensgefährte Daniel Juling durch ihre Praxis tanzen. Und zwar Kizomba, einen Gesellschaftstanz aus dem afrikanischen Angola, vor fünf Jahren haben sie den entdeckt. Das Paar feiert schon immer mit Freunden zusammen Weihnachten, erst am zweiten Feiertag kommen ihre Familien zusammen. Dieses Jahr allerdings hatten die beiden einen Wasserrohrbruch zu Hause - "zu ungemütlich, um Gäste einzuladen", sagt Jeanette Müller, 48 Jahre. Also entschied sich das Paar spontan, ihre Tanzfreunde in die Praxis einzuladen, Müller ist Heilpraktikerin für Psychotheraphie. Die meisten waren sofort begeistert von der Idee, zehn sagten zu. Einen Weihnachtsbaum aber wird es bei der Kizomba-Party nicht geben, die Teilnehmer möchten einfach nur Spaß haben, es geht ihnen um die Gemeinschaft, die Leidenschaft zum Tanzen. Bis in die Nacht soll die Party gehen, "ganz unkonventionell und unverkrampft", sagt Müller. Mit dem Weihnachtsessen werden sich die Tänzer nicht lange aufhalten. Jana Rick

Auf der Piste

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(Foto: privat)

An Weihnachten steht Benedikt Pentenrieder früh auf und packt seine Sachen. Den Helm, die Handschuhe. Dann fährt er in die Berge. "Den Kopf frei kriegen". Es war vor ein paar Jahren, als ein Freund ihn fragte: "Meinst du nicht, an Heiligabend sind die Pisten leer?" Und er dachte: "Bestimmt." Seither gehen sie boarden, statt den Baum zu schmücken. Pentenrieder, 28, findet das nicht ungewöhnlich. Er findet das schlau. Keine Schlangen an der Kasse, keine Schlangen am Lift, und eine Schneedecke, die niemand zerfahren hat. "Besser geht's kaum." Dieses Jahr fahren der Rechtsreferendar und sein Kumpel an das Brauneck. Erst wenn die Lifte schließen, fährt Benedikt Pentenrieder wieder zurück. Den Glühwein beim Aprés-Ski lässt er aus. Denn wenn die Familie den Baum geschmückt hat, will Pentenrieder in München sein. Aber erst dann. Gianna Niewel

Auf dem Zahnarztstuhl

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(Foto: Michael Steiner)

Es gibt viele Möglichkeiten, wie man Heiligabend verbringen kann. Die weihnachtlichen Stunden liegend auf einem Zahnarztstuhl mit weit geöffnetem Mund zu erleben, zählt dabei wohl nicht zu den Höhepunkten. Dabei birgt das Fest einige Gefahren. Ein Stück Knochen von der Weihnachtsgans zum Beispiel, einmal ungünstig zugebissen und schon liegt die Füllung in der Hand, statt im Zahn. An Heiligabend dauert die Schicht der Zahnärztin Sarah Garay zehn Stunden. Sie arbeitet im Münchner Zahnzentrum Alldent, das 365 Tage im Jahr, 24 Stunden am Tag geöffnet hat. Manchmal kommen an Weihnachten Patienten zu ihr, die noch in der Innenstadt einkaufen waren und plötzlich Schmerzen verspüren, manchmal auch Stammpatienten. Wie ihre Schicht wird, weiß Garay zuvor nie. Die 33-Jährige hat schon erlebt, dass an Heiligabend einige Stunden kaum jemand kam, und dann standen die Patienten plötzlich Schlange. An solchen Tagen aber bekomme man viel Dankbarkeit zu spüren. Da bringen Patienten nach der Behandlung auch schon mal Schokolade oder Kuchen vorbei. Inga Rahmsdorf

Auf dem Bauernhof

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(Foto: privat)

An Weihnachten fahren die Menschen nach Hause. Was aber, wenn es das Zuhause nicht gibt? Simon Krodel, 28, arbeitet als Sozialpädagoge bei Condrobs in München, er kümmert sich um Jugendliche mit Suchterkrankungen. Alkohol, LSD, Marihuana, solche Sachen. Manche haben keine Eltern, zu denen sie über die Feiertage fahren können, weil es die Eltern nicht mehr gibt, weil sie selbst krank sind oder das Kind nicht sehen wollen. "Dafür bin ich da", sagt Simon Krodel. Er und ein Kollege fahren mit den Jugendlichen, die sonst an Weihnachten alleine wären, ein paar Tage weg. Das machen sie schon seit Jahren so. "Es ist doch besser, wenn die an Heiligabend nicht allein in ihrem Zimmer sitzen." In diesem Jahr zum Beispiel geht es auf einen Bauernhof am Chiemsee. Nicht weit weg, aber in der Umgebung: Berge, Schnee und vor allem ganz viel Ruhe. Abends werden sie beim Kniffel-Spiel zusammensitzen und Raclette essen. Raclette, sagt Krodel, mögen die Jugendlichen gerne. Und darum geht es ihm: Dass auch die etwas zu feiern haben, für die Weihnachten sonst eigentlich kein Fest wäre. Gianna Niewel

Auf der Leinwand

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Ihre Kunden nehmen an Weihnachten meist die große Portion, für um die sechs Euro. Dilara Tanriverdi, 20, steht dann an der Popcorntheke und füllt eine Tüte nach der anderen. Sie übergibt die Popcorntüte Paaren, die sich an Weihnachten einmal was gönnen wollen. Gemeinsame Zeit. Sie übergibt die Popcorntüte an Familien, die die Stunden überbrücken müssen. Bis zur Bescherung. Und sie übergibt die Popcorntüte an Menschen, die ohnehin kein Weihnachten feiern. Dann bleibt Zeit für Kino. An Weihnachten nehme man lieber mal einen Star Wars raus und einen türkischen Film rein, sagt Tanriverdi, dieses Jahr zum Beispiel läuft Aci Tatli Eksi. Ein Liebesfilm, eine Stunde und 46 Minuten. Dilara Tanriverdi feiert selbst auch kein Weihnachten, die vergangenen drei Jahre hat sie deshalb an der Popcorntheke gearbeitet. Sie mag das, die Menschen sähen an diesem Tag glücklicher aus, sagt sie. Vielleicht bilde sie sich das aber auch nur ein. Pia Ratzesberger

Auf dem Barhocker

Viele der Gäste kommen jeden Tag zu ihm, in seine Kneipe. Das Paar mit dem Rotwein zum Beispiel, das im Sommer immer draußen vor der Türe sitzt, im Winter hinter den abgeklebten Scheiben, gleich beim Fernseher. Hristos Nerantjakis stellt dann ein Glas mit Salzstangen auf den Tisch, wie immer, ein Strich auf den Deckel für jedes Getränk. Auch an Heiligabend wird er das so machen. Während die anderen in ihren Wohnzimmern sitzen, wird er in seiner Boazn in der Morassistraße 6 mit denen zusammensitzen, auf die im Wohnzimmer niemand wartet. "Und dann trinken wir ein bisschen Prosecco", sagt Hristos Nerantjakis, ein kleiner Mann, der von sich sagt, dass er 60 Jahre alt sei, ob das wirklich stimmt, weiß man nicht so recht. Nerantjakis lächelt. Auf seiner Theke steht seit ein paar Tagen ein Weihnachtsbaum, kaum größer als eine Flasche Bier, an Heiligabend wird er auf dem Bildschirm einen "guten Film" anschalten. Das ist etwas Besonderes, an anderen Tagen laufen Vorabendserien und Fußballspiele. Bloß keinen Gottesdienst. Das wollten die Menschen nicht. "Wer soll an Weihnachten schon kommen, die Gratler", sagt ein Mann an der Theke, seine Stimme klingt schal, er ordert gerade sein nächstes Bier. Neben ihm die Spielautomaten. Wenn nur fünf, sechs Gäste da sein werden, wie 2016, wird Hristos Nerantjakis um 10 Uhr zusperren. Vielleicht aber auch erst um 2 Uhr. Er hebt die Schultern. Hristos Nerantjakis hat - im Gegensatz zu vielen anderen Menschen in München - an diesen Tag keine Erwartungen. Pia Ratzesberger

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