Hasenbergl:Sarah springt ein, wenn Mama ausfällt

Seit 40 Jahren kümmert sich der Sozialpsychiatrische Dienst im Hasenbergl um Kranke und ihre Angehörigen. In einer ambulanten Beratungsstelle leistet er auch Hilfe für Kinder von psychisch kranken Eltern

Von Simon Schramm, Hasenbergl

Sarah (Name geändert) ist als Zehnjährige bereits so reif und selbständig wie es andere nicht mal als Volljährige sind: Regelmäßig kümmert sich das Mädchen aus dem Münchner Norden um den Haushalt, übernimmt die Wäsche oder das Kochen. Sie ist reflektiert und schnell um andere besorgt. Experten nennen diesen Effekt Parentifizierung: Die Kinder übernehmen in einem frühen Alter selber Verantwortung. Die Ursache dafür liegt in der Familie. So ist es auch bei Sarah. Ihre Mutter ist schwer depressiv. Das Mädchen springt ein, wenn Mama ausfällt. Das führt wiederum zu Schwierigkeiten, etwa mit den Geschwistern, die die Fürsorge der Schwester als Kontrolle empfinden. Wenn ein Elternteil ausfällt, vertauschen sich die Rollen im familiären Gefüge. "Die Eltern sind in einer bedürftigen Rolle, und die Kinder stellen ihre eigenen Bedürfnisse zurück", sagt Sozialpädagogin Katharina Anane-Mundthal.

Anane-Mundthal arbeitet in einer speziellen Gruppe des Sozialpsychiatrischen Dienstes (SpDi) im Hasenbergl. Die ambulante Beratungsstelle kümmert sich um Menschen mit einer psychischen Erkrankung, richtet sich aber auch an deren Angehörige, Freunde, Nachbarn oder Arbeitskollegen. Aktuell hat der Bereich 13 Mitarbeiter, zum Teil in Teilzeit.

Wie so oft im Hasenbergl ist es dem evangelischen Pfarrer Otto Steiner zu verdanken, dass im Bezirk eine soziale Einrichtung wie der SpDi entstanden ist. Tatsächlich war Steiner Pionier: 1975 verlangte die Bundesregierung aufgrund einer Untersuchung, psychisch Kranke auch außerhalb einer Klinik zu betreuen und zu behandeln. Steiner richtete den bayernweit ersten sozialpsychiatrischen Dienst in der Geschäftsstelle der Diakonie am Stanigplatz ein. "Es ging damals los mit ein paar Sozialpädagogen-Stellen", sagt die heutige Dienstleiterin Gudrun Zajicek. Die Einrichtung wuchs so stark, dass sie 1997 in ein eigenes Gebäude in der Riemerschmidstraße umzog. Sie ist eine zentrale Institution im Viertel geworden. "Ich merke, wie wir von allen Seiten gefragt sind", sagt die Leiterin Gudrun Zajicek.

40 Jahre Sozialpsychiatrischer Dienst Hasenbergl

In zahlreichen Gruppen kümmern sich die Mitarbeiter des Sozialpsychiatrischen Dienstes seit 40 Jahren um das seelische Wohl ihrer Klienten.

(Foto: Volker Schmitt/oh)

Etwa seit 15 Jahren wird das Angebot ausgebaut. Es gibt zum Beispiel zwei Selbsthilfegruppen für Frauen, einen inklusiven Töpferkurs oder eine Stabilisierungsgruppe, die etwa für den Umgang mit einer Lebenskrise berät. "Mit den Gruppen haben wir auf den Bedarf im Viertel reagiert", so Zajicek. Der SpDi hilft auch außerhalb seiner Räume: Er begleitet das betreute Einzelwohnen für Erwachsene bis 60 Jahre und das sogenannte Case-Management, die intensive und individuelle Betreuung für einen psychisch kranken Menschen. Außerdem ist beim SpDi zu bestimmten Schichtzeiten der Krisendienst der Psychiatrie für den Münchner Norden angesiedelt. In Zukunft wird es unter anderem wohl mehr Plätze für das betreute Einzelwohnen geben.

Seit 2011 gibt es beim SpDi die Kindergruppe "power4you", die Kinder wie Sarah dabei unterstützen möchte, mit der Krankheit ihrer Eltern umzugehen; zumal ein höheres Risiko bestehe, dass die Kinder selber erkranken, so Zajicek. "Es ist nicht der Regelfall, dass bei einem Kind mit psychisch kranken Eltern der Effekt der Parentifizierung einsetzt", sagt Zajicek. Zwei weitere solcher Kindergruppen gibt es in München. Die Chefin berichtet stolz, dass die Gruppe des SpDi mittlerweile in die Regelförderung der Stadt aufgenommen wurde, nachdem der SpDi anfangs in jedem Jahr die Finanzierung aufs Neue beantragen musste. Das Budget für "power4you" beträgt etwa 20 000 Euro. Die Gruppe bietet den Kindern ein Forum, um über ihre Erfahrungen zu sprechen, zu reflektieren. "Die Eltern wissen oft nicht, wie sie ihren Kindern ihre Krankheit erklären sollen", sagt Pädagogin Anane-Mundthal. Gleichzeitig soll die Gruppe die Kinder entlasten. "Sie soll es ermöglichen, wieder Kind sein zu dürfen", fasst Leiterin Zajicek zusammen. Bei Sarah ist dieser positive Fall eingetreten: Sie habe in ihre Kindrolle zurückgefunden und an Leichtigkeit gewonnen, der altersunangemessene Elternanteil habe abgenommen.

Feiern mit Kunst

An diesem Mittwoch, 28. Oktober, feiert der Sozialpsychiatrische Dienst München Nord sein 40jähriges Bestehen. Bei den Grußworten werden auch die Klienten und Klientinnen der Einrichtung von ihren Eindrücken berichten. Außerdem gibt es eine Kunstausstellung sowie Speis und Trank. Vorgesehen ist die Versteigerung von Töpferskulpturen, die im inklusiven Kurs entstanden sind. Das Fest in der Riemerschmidstraße 16 beginnt um 13.30 Uhr und dauert bis 17.30 Uhr. ssr

Die Kindergruppe ist bewusst klein gehalten und trifft sich über einen Zeitraum von ungefähr sechs Monaten in regelmäßigen Wochensitzungen; sie richtet sich an alle Kinder im Alter von sechs bis 13 Jahre. Die Pädagogin des SpDi arbeitet dabei mit einer Fachkraft der Erziehungsberatungsstelle des SpDi zusammen. "Das hat sich bewährt, weil die Blickwinkel anders sind", sagt Gudrun Zajicek. Um die Erkrankung der Mütter und Väter altersgerecht zu vermitteln, werden in der Gruppe Kinderbücher gelesen. Die Sitzungen gestalten sich unterschiedlich, mit gemeinsamer Brotzeit, Malstunden oder dem Erstellen eines Gefühlsteppichs. Jedes Treffen endet mit einer größeren Unternehmung, beispielsweise einem Theaterbesuch oder dem Turnen in einer Kletterhalle.

In manchen Fällen, erzählen die Fachleute, vernachlässigten die erkrankten Elternteile ihre Kinder, vergessen etwa, sie vom Treffen abzuholen. Wenn deutlich werde, dass Papa oder Mama nicht mehr in der Lage ist, die Verantwortung für das Kind zu übernehmen, kann der SpDi auch das Jugendamt benachrichtigen. Leiterin Zajicek betont aber, dass auch Eltern mit einer psychischen Krankheit sehr wohl für ihre Söhne und Töchter sorgen. Bestandteil von "power4you" ist auch die Zusammenarbeit mit den Erziehungsberechtigten. Bei Sprechstunden möchte der SpDi ihnen transparent machen, was in der Kindergruppe geschieht. "Die Eltern können Fragen stellen und wir berichten ihnen, wie sich die Kinder entwickeln", sagt Sozialpädagogin Anane-Mundthal.

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