Hasenbergl:Die Last abnehmen

Eine Diakonie-Gruppe hilft Kindern, die unter den psychischen Problemen ihrer Eltern stark leiden. Wichtig ist vor allem: Normalität

Von Simon Schramm, Hasenbergl

Die Kinder, die die "Power4you"-Gruppe der Diakonie Hasenbergl besuchen, sind sehr jung, aber sie stemmen Lasten, die auch Erwachsenen alles abverlangen würden. Der Alltag der Eltern dieser Kinder ist von Stress oder Krisen geprägt, etwa wegen einer Trennung, einem Trauma, oder weil ein Elternteil arbeitslos ist. Bei vielen Fällen in der Gruppe leiden die Eltern an einer psychischen Erkrankung, was auch ihr Verhalten zu ihren Kindern beeinflusst.

Wenn zum Beispiel ein Elternteil wegen einer Depression nicht fähig ist, den Haushalt zu schmeißen, übernimmt das die Tochter im Alter von zehn Jahren; das Mädchen wiederum äußert gar keine eigenen Bedürfnisse mehr und kommt wenig aus sich heraus. Es kann aber auch sein, dass die große Schwester gegen ihren Bruder übergriffig wird und ihn nie zu Wort kommen lässt. Manchmal wissen die Kinder wegen der Krise ihrer Eltern sich nicht anders auszudrücken, als aggressiv oder unkonzentriert zu sein.

Was die Gruppe im Münchner Norden diesen Lebenslagen entgegenbringen möchte, lässt sich mit einem Wort zusammenfassen: Normalität. In der wöchentlichen Gruppe wollen die Therapeutin Ilse Knott und Psychologin Dorothea Wehgartner den Kindern ermöglichen, sich auf ihre Gefühle einzulassen. Auch werden die Kinder über die Krankheit informiert, die die Eltern vermutlich haben, vermittelt über ein Kinderbuch. Gelegentlich ist für die Kinder einfach nur Spielen angesagt. Das Motto jeder Sitzung: "Jetzt, in der Gruppe, darfst du Kind sein", sagt Ilse Knott.

Deutschkurs für Flüchtlinge in der Bayernkaserne in München, 2015

Wie es ihnen geht, das wissen die Kinder, die unter familiärem Druck stehen, oft gar nicht.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

In diesen Tagen endet die laufende Gruppe. Fazit dieser Saison: "Keine Gruppe ist wie die andere, nichts ist berechenbar", sagt Leiterin Knott. Mit fünf Kindern gestartet, besuchen die letzte Sitzung noch zwei. Es kommt öfters vor, dass die Sechs- bis 13-Jährigen nicht alle Sitzungen in sechs bis sieben Monaten mitmachen. Manchmal werden die Kinder in Obhut genommen, weil sie bei ihren Eltern nicht mehr leben können, manchmal sind die Kinder schnell vorangekommen. "In der Gruppe von 2017 ist viel wahrgenommen worden", sagt Knott. "Unser Eindruck ist, dass wir die Kinder gestärkt entlassen."

Entstanden ist "Power4you", weil in der Erziehungsberatungsstelle der Diakonie immer wieder die Fälle auftraten, mit der die Gruppe nun befasst ist. 2011 als Projekt gestartet, ist "Power4you" mittlerweile regelfinanziert. An dem Konzept hat sich nichts verändert. "Die Kinder sollen Leichtigkeit erfahren", sagt Knott. "Der zweite Baustein: Grenzen wahrnehmen und Grenzen setzen." In diesem Jahr gab es ein Kind im Grundschulalter, das sich einerseits trotzig verhielt, andererseits sich oft zu sehr an seine Eltern klammerte. Im Unterschied zum Alltag, etwa in der Schule, haben die beiden Frauen das Kind nicht dafür bestraft, wenn es sich nicht beteiligte oder aus dem Zimmer lief. Zunächst werden die Kinder angenommen, wie sie sind, aber dann ein neues Format, sich auszudrücken, gesucht. Das Kind äußerte, was es aufregt oder was zu Hause los ist, indem es das aufgeschrieben hat. Von Sitzung zu Sitzung habe es sich mehr geöffnet und durch "spontane Liebesbekundungen" gezeigt, dass es die Erfahrung in der Gruppe wertschätzt, meint Knott.

Dazu haben die beiden Frauen den Eltern erklärt, wann für das Kind mehr Distanz nötig wäre. Knott und Wehgartner wollen im Laufe des halben Jahres den Eltern vermitteln, was sie beobachten. Es kann sein, dass die Leiterinnen auch die Problemlage der Eltern ansprechen. Knott sagt, sie bringe auf den Punkt, welche Lage sie in der Familie spüre, und weise auf Hilfsmöglichkeiten hin - aber wenn es darauf keine Reaktion gebe, sei das eben so. Der Fokus liege auf den Kindern. Im Abschlussgespräch heben die Frauen hervor, wie der Fortschritt der Kinder nach der Gruppe weitergetragen werden könnte, zum Beispiel im Sportverein.

Hasenbergl: Ilse Knott (links) und Daniela Wehgartner betreuen die Kinder.

Ilse Knott (links) und Daniela Wehgartner betreuen die Kinder.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Die Kinder trainieren in der Gruppe ihre Empfindungsfähigkeit. "Sie sollen ihren Körper spüren", sagt Psychologin Wehgartner. Das geschieht zum Beispiel durch Eingipsen der Hände, Rückenmassage oder Rollenspiele. "Die Kinder sind in ihrer Körperwahrnehmung gestört, fühlen nicht, wenn sie Hunger haben oder müde sind", sagt Knott. Mit den Übungen sollen die Kinder aktiviert werden, ihre Gefühle wahrzunehmen und besser einzuschätzen. Nicht abblocken, sondern wie ein munterer Bär bewusst ansagen, was einen beschäftigt. Oder: eine Höhle aus Decken und Stühlen bauen und bewusst den Rückzug wählen.

Knott und Wehgartner erkennen an kleinen Zeichen, ob die Kinder sich entwickeln. Wenn ein Junge selbständig einen Fehler zugibt, oder wenn ein Kind nicht abwehrt, sondern sich mit einer Entscheidung Zeit lässt. Die Frauen loben das, damit die Kinder ihre eigene Stärke darin sehen, auch zuhause oder in der Schule so aufrichtig zu sein. In der abschließenden Sitzung zeigen die Kinder noch ein letztes Mal, wie sie zu einer Balance gefunden haben. Jedes Kind füllt eine Schatztruhe mit persönlichen Dingen und einem Tier aus Tonmaterial. Ob es den Inhalt in der Gruppe präsentiert, ist seine Entscheidung. "Die Kinder sollen sehen: Sie haben das Recht, das selbst zu verfügen", sagt Knott.

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