Hasenbergl:Auf dem Platz der ungenutzten Chancen

Walden

Wie im Juli vor 172 Jahren der Schriftsteller Henry David Thoreau in den Wald zog, inszeniert die Künstlerin Ute Heim im Hasenbergl das Landleben.

(Foto: Veranstalter/oh)

Ute Heim baut sich an der Blodigstraße zwischen mickrigen Bäumen eine Hütte - ein ironisches Zitat Henry David Thoreaus

Von Stefanie Schwetz

Hasenbergl - Amerika im Jahr 1845. Der ehemalige Lehrer, Philosoph und Schriftsteller Henry David Thoreau zieht sich für zwei Jahre auf das bewaldete Grundstück eines Freundes zurück. Er errichtet eine Hütte am See, baut Gemüse an, entsagt der Lohnarbeit und genießt das Leben in der Natur. Ein Experiment.

München im Jahr 2017. An diesem Freitag, 21. Juli, wird sich die Künstlerin Ute Heim für einen Tag auf dem Platz vor dem Kulturzentrum 2411 an der Blodigstraße im Hasenbergl niederlassen. Sie wird eine Hütte bauen, eine Holzplatte mit einem aufgemalten See auf das Pflaster legen und den Rest des Tages mit Säen, Angeln und Nachdenken verbringen. Ab und zu wird sie vom Balkon des Kulturzentrums aus ein Lied singen. Und am Abend wird sie die Utensilien dieses temporären Lebensraums einpacken und nach Hause gehen. Zuvor aber mit ihrem "Prärieorchester" im Kulturzentrum noch ein kleines Konzert geben. Eine Kunstaktion.

Was aber hat das Experiment in der Natur, das Thoreau in seinem Roman "Walden" dokumentierte, mit der Jetzt-Zeit und vor allem mit Ute Heims Projekt "Waldenbergl" im Münchner Norden zu tun? Heutzutage lässt sich der teils bizarre Trend zur Natur allein am massenhaften Konsum von Outdoor-Artikeln ablesen. "Das ist schon auffällig, dass jedes Mädel einen Wanderrucksack trägt, obwohl es nicht in den Wald, sondern shoppen geht", sagt Ute Heim. Dennoch verbergen sich hinter solchen Attitüden so grundlegende Fragen wie: Was braucht der Mensch zum täglichen Leben? Wie kann er der Reizüberflutung und Zerstreuung entgehen?

Ute Heim ist auf dem Land aufgewachsen. "Mehr Land als da, wo ich herkomme, geht nicht in Deutschland", sagt sie. Zwar war dieser "wunderschöne" Flecken Erde an der Zonengrenze in unmittelbarer Nachbarschaft zum Todesstreifen alles andere als ein Idyll, aber doch ein Ort der Freiheit, um den sich keiner kümmerte, weil ihn niemand kannte.

Heute lebt Ute Heim mitten in München - für die Kunst. Skulpturen, Installationen, Videos - "ich mache alles, außer malen", sagt die ausgebildete Holzbildhauerin und Geigenbauerin, die an der Akademie der Bildenden Künste München freie Kunst studierte. Nun also das Projekt "Waldenbergl" der Veranstaltungsreihe "30 Jahre Artothek": ein Szenario, in dem sich die biografischen Lebensräume der Künstlerin verquicken, eine Gegenüberstellung von Stadt und Land. Der Rückzug in die Natur von Henry David Thoreau damals spielte sich nur einen Spaziergang von der nächsten Stadt entfernt ab, wohin er regelmäßige Kontakte zu Freunden und Familie pflegte.

Insofern war sein Walden-Projekt womöglich auch nur eine Attitüde. Ein inszeniertes Abenteuer, wie es Kinder erleben, wenn sie auf dem Rasen zwischen Garage und Haustür im Zelt übernachten. Ganz anders gestaltet sich das Leben für die Menschen im Hasenbergl, das lange Zeit als Problemviertel galt. Das sogenannte einfache Leben ist dort ein anderes als das vom Zeitgeist à la Thoreau propagierte. Ute Heim findet es eher anmaßend, vom "einfachen Leben" zu sprechen, "wenn man wie die Made im Speck sitzt, was ja vor allem in München oft der Fall ist". Ihr Kunstprojekt "Waldenbergl" will sie deshalb auch als Kritik verstanden wissen an der fortschreitenden Simulation von Bescheidenheit und Genügsamkeit.

Jenseits von finanziellem Wohlstand hat der Platz an der Blodigstraße, zwischen Einkaufszentrum, U-Bahn-Aufgang und Kulturzentrum, für Heim eine besondere Qualität. "Das erste, was mir auffiel", erzählt die Künstlerin, "war, dass der Platz als eine Art öffentliches Wohnzimmer genutzt wird". Hier haben die Menschen zwar wenig Geld, aber Zeit, sich zu unterhalten, trotz des Straßenlärms. Überhaupt die Straße: Die wirke so, "als würde alles Mögliche vorbeibrausen an dem Viertel: das Leben von anderen, irgendwelche vermeintlichen Chancen, die Möglichkeit, von hier wegzukommen". Irgendwie hat es der Platz an der Blodigstraße der Künstlerin angetan - die Bäume, die Anordnung der Bänke, der Versuch, einen lebenswerten Raum zu schaffen. "Auf 'Walden' bin ich eigentlich wegen der Bäume gekommen, die da sehr verloren und vereinzelt herumstehen und noch klein sind. Als würde jemand versuchen, einen Wald zu bauen und es hat nicht richtig geklappt, weil es halt doch kein Wald ist", erzählt Ute Heim.

Der ideale Ort also, um den alten Thoreau mit ironisch-spielerischer Leichtigkeit zu zitieren. Deshalb lässt sich Heim für einen Tag provisorisch in dem kleinen Wald an der Blodigstraße nieder, wie die Kinder im Zelt vor der Garage. Sie verrichtet ihr künstlerisches Tagwerk und wartet, was sonst noch passiert. Ob man sie beobachten wird, wie eine Exotin? Ob sie von jemandem angesprochen wird? "Tja, wenn ich das wüsste."

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