Haidhausen:Wer hier einkauft, bekommt eine Portion freundlichen Spott gratis dazu

Tabak- und Getränkelad'l Haidhausen, Steinstr. 55

Christa Verweyen (links) und ihre Schwester Helga Rödl betreiben seit 1990 ihren Laden an der Ecke Stein-/Milchstraße.

(Foto: Florian Peljak)

Im "Tabak- und Getränkelad'l" in Haidhausen wird jeder geduzt. Er ist Refugium für ein Münchner Lebensgefühl, das früher ganz normal war - und heute viele vermissen.

Von Stefan Mühleisen

Zwei Frauen mit Regenschirmen und kolossalen Hüten gehen zielstrebig über das Kopfsteinpflaster in Richtung Sedanstraße; daneben hat eben die Trambahn der Linie 12 gehalten. Herren im Gehrock helfen den Damen beim Einsteigen; ein Zweispänner-Pferdefuhrwerk rumpelt links aus dem Bild hinaus, womöglich hat der Kutscher gerade die Anlieferung erledigt in dem Tabak- und Getränkeladen am Eckhaus Steinstraße 55. In dem Laden, hinter dem Schaufenster, könnte sich gerade folgende Szene abspielen: "Ihr seid's immer guat drauf", sagt der 44-Jährige Kunde, Schankkellner, zufrieden mit seinem Kompliment. "Ja, obwohl du jeden Tag vorbei kommst", entgegnet die Ladenpächterin. Schallendes Gelächter, Schulterklopfen. Servus, bis morgen.

Die Fotografie zeigt eine Alltagsszene in Haidhausen, von einem unbekannten Fotografen festgehalten wohl so um das Jahr 1910. Die herzlich-frotzelnde Unterhaltung trägt sich am gleichen Ort, im gleichen Laden zu, allerdings mehr als 100 Jahre später. Das Geschäft heißt jetzt "Tabak- und Getränkelad'l", geführt von den Schwestern Helga Rödl und Christa Verweyen. Doch man braucht nicht viel Fantasie, um sich vorzustellen, dass solche feixenden Dialoge im Münchner Idiom so ähnlich wohl schon damals an der Kreuzung Stein-, Milch- und Sedanstraße abliefen. Schließlich fährt hier immer noch die Trambahn, das Kopfsteinpflaster gibt es auch noch - und die entsprechende Atmosphäre. "Es ist hier noch immer so, wie es früher war, so familiär", sagt eine Kundin, 77, akkurate Strickmütze auf dem Kopf. "Jetzt schwärm' net so", weist Christa Verweyen die Frau zurecht. "Ach, die zwei Schwestern sind einmalig", schwärmt die Kundin unverdrossen weiter.

Die beiden Schwestern und der kleine Laden werden noch häufig gerühmt bei diesem Besuch an einem Werktagvormittag. Die Menschen im Franzosenviertel, sie lieben diesen Ort; sie schätzen den unkomplizierten und vertrauten Umgang; sie mögen es, nicht einfach nur Zigaretten, Zeitschriften oder Getränke einzukaufen. Sie wollen dabei auch ihre Geschichten erzählen, sich heimisch fühlen, "am Leben teilnehmen", wie es die 77-jährige Frau mit der Strickmütze ausdrückt. So ist das Tabak- und Getränkelad'l ein Refugium für ein Münchner Lebensgefühl, das früher ganz normal war - und heute viele vermissen.

Dass es an dieser Ecke weiterexistieren, ja blühen kann, hat mehrere Gründe. Haidhausen ist immer noch ein urbanes Dorf: gemütlich, überschaubar. Ein teures Dorf freilich, die Mieten sind hoch, die Mieter oft wohlhabend. Doch die Wohlhabenden führen sich nicht wie Betuchte auf. Hier wohnen keine Protzer. Es sind weltoffene Bürger, die ihr Dasein genießen, und zwar entspannt, ungezwungen, normal.

Um Normalität im Münchner Bürgersinn zu leben, muss man jedoch gegenseitig auf sich zählen können - und da sind die beiden Laden-Pächterinnen die Ideal-Besetzung: Sie sind ein verlässlicher Anlaufpunkt und damit eine kleine feste Größe im Alltag der Nachbarschaft. "Wir behandeln alle gleich", sagt Christa Verweyen, 61, Kurzhaarschnitt und Brille. Ob Akademiker, Arbeiter, Arbeitsloser - jeder wird geduzt und bekommt mit seinem Einkauf eine kleine Portion freundlichen Spott kostenlos dazu. "Die Leute haben ein Grundvertrauen zu uns", sagt Helga Rödl, 59, ähnlicher Kurzhaarschnitt wie ihre Schwester, gleiches gutmütiges Grinsen.

Schlagfertig sollte man hier schon sein

Das zeigt sich daran, dass etliche Stammkunden dem Geschwisterpaar ihre Schlüssel überlassen. Entweder die zur Wohnungstüre, damit einer der "Liefer-Buam" - so nennen die Schwestern ihre Aushilfen - die Getränkekisten in die Häuser der Kundschaft bringen können. Oder die Autoschlüssel, damit der Wagen verräumt werden kann, wenn dieser den Parkplatz für den Getränkelaster belegt. Als Gegenleistung sollten die Verursacher schon schlagfertig sein. "Gehört deinem Sohn dieses Flitscherl-Etui?", bekommt eine Kundin zu hören; gemeint ist ein Smart-Kleinwagen draußen vor dem Laden, für Verweyen zweifellos das natürliche Behältnis für leichtlebige Mädchen.

Straßenszene in Haidhausen, Steinstraße/Milchstraße, um 1910; im Hintergrund: das heute immer noch existente "Tabak- und Getränkelad'l" Steinstr. 55

Schon 1910 stand der kleine Laden (Markise im Hintergrund), wie ein historisches Foto bezeugt.

(Foto: Haidhausen-Museum)

Seit 1990 erheitern die beiden Frauen ihre Kundschaft mit derlei Sprüchen. Sie haben den Laden damals von einem Mann übernommen, der seinerseits Jahrzehnte lang am Verkaufstresen stand. Damals glich das Geschäft einem öffentlichen Wohnzimmer, schon frühmorgens zechten hier die Arbeiter. Heute stapeln sich mannshoch die Bier und- Limonade-Träger; in den Regalen reihen sich Bio-Säfte, an den Wänden hängen alte Blech-Werbeschilder. 50 Quadratmeter, eine ratternde Registrierkasse, Tausende Geschichten.

Die Kunden, sie erzählten alles aus ihrem Leben, sagt Helga Rödl - und umgekehrt. Wie es ihnen selbst, den Kindern, Eltern, Haustieren geht. Was man im Urlaub, in der Arbeit, in der Trambahn erlebt oder wieder nicht erlebt hat. Die Älteren melden sich ab, wenn sie ins Krankenhaus müssen. Das ist auch nötig, denn die Schwestern haben ein Auge auf ihre gebrechlichen Schützlinge. "Wenn da mal einer zwei oder drei Tage nicht kommt, rufen wir an oder schauen vorbei", sagt Helga Rödl.

So entstanden Bindungen: Regelmäßig sind die Schwestern auf Hochzeiten eingeladen; bei den Beerdigungen, so sagt Verweyen, "da wechseln wir uns ab". Das ist keinesfalls respektlos, im Gegenteil. Sie teilen sich ja auch die Arbeitszeit im Laden auf. Eine muss immer die Stellung halten. Anders kennen es die Haidhauser ohnehin kaum, wie die Begrüßung eines Kunden deutlich macht: "Aha, heute Doppelbesetzung."

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