Häftlinge in Stadelheim:Flaschendrehen im Jugendknast

Häftlinge in Stadelheim: Von den Jugendlichen in Stadelheim fordert Manuela Sessler ein offenes Gespräch. Wieso sie einsitzen, interessiert in diesem Moment nicht.

Von den Jugendlichen in Stadelheim fordert Manuela Sessler ein offenes Gespräch. Wieso sie einsitzen, interessiert in diesem Moment nicht.

(Foto: Thomas Kost)

Es geht um Sex, HIV und Hepatitis: Einmal im Monat kommt Manuela Sessler in den Jugendarrest Stadelheim. Freiwillig. Sie spricht mit jungen Häftlingen über sexuell übertragbare Infektionen.

Von Agnes Fazekas

An diesem Morgen geht Manuela Sessler in den Knast statt ins Büro. Sie zeigt ihren Ausweis an der Pforte, tritt durch die Sicherheitsschleuse und muss warten, bis ihr eine Beamtin vom Sozialdienst die vier schweren Türen aufgeschlossen hat. "Heute sind es zehn", sagt sie. "Eigentlich alle ganz nett. Drei Mädels."

Nur ein paar Schritte von Wand zu Wand, dazwischen ein enger Stuhlkreis, Wasserfarbenbilder an der Wand, auf dem Tisch liegen Broschüren aus: "Sex 'n' Tipps". Hier bleibt kein Platz für falsche Scham - gut für Manuela Sessler.

Die 32-Jährige engagiert sich seit zwei Jahren für die Münchner Aidshilfe. Jede Woche besuchen Ehrenamtliche wie sie die Jugend-Arrestanstalt Stadelheim, um über HIV und Hepatitis zu sprechen. HIV hat durch die modernen Behandlungsmethoden seinen einstigen Schrecken zwar weitgehend verloren, aber gerade deshalb ist es notwendig, weiter auf das Risiko aufmerksam zu machen. Jedes Jahr stecken sich ein paar Tausend Deutsche an. Obwohl die Bedrohung durch Aids unverändert hoch ist, ist sich dessen kaum noch jemand bewusst - auch ein Grund, warum jedes Jahr am 1. Dezember der Welt-Aids-Tag begangen wird.

Geschlechtskrankheiten? "Interessiert mich nicht."

Für Manuela Sessler begann alles in Ostafrika. Dort stand sie vor acht Jahren schon mal vor Jugendlichen. Sie nahm an einem Projekt für Schulen in Uganda teil: "Straight Talk". Der Name ist Programm: Ohne Umschweife über alles zu sprechen, was mit dem Erwachsenwerden zu tun hat - und zu Hause meist totgeschwiegen wird. In Uganda wussten die Kinder besser Bescheid über das Virus und den Schutz davor als die jungen Häftlinge, mit denen sie heute spricht.

Mit Hepatitis setzte Sessler sich das erste Mal auseinander, als ihr das Tropen-Institut die Impfung für die Reise nach Afrika empfahl. "Dabei ist die Ansteckungsgefahr viel größer als bei HIV." Eine halbe Million Deutsche, schätzt man, haben eine chronische Hepatitis B.

Manuela Sessler arbeitet als Projektassistentin bei einer großen Computerfirma. Sie hat in München Pädagogik studiert. Bei einem weiteren studentischen Aufklärungsprojekt in Kenia kam ihr die Idee, für die Uni eine quantitative Forschung über HIV-Prävention im interkulturellen Vergleich zu machen. Ein Sozialarbeiter, den sie dazu in Deutschland interviewte, wies sie auf das Ehrenamt bei der Aidshilfe hin. Lässig schlendern zwei Jungs herein. Mit ihren massigen Schultern wirken sie in dem winzigen Raum wie zwei Bauarbeiter, die sich in den Kindergarten verirrt haben: "Was gibt es hier heute?", fragt der eine mit einem lila verschwollenen Auge. "Geschlechtskrankheiten? Interessiert mich nicht." Sein Kumpel drückt ihn auf den Stuhl. Er ist gelernter Sanitäter.

"Es ist immer einer dabei, der cool tut und sein Halbwissen einbringen will und einer, der gar nichts sagt", hat Sessler vorab erzählt: "Das Gute ist, sie können nicht weglaufen. Außerdem sind sie lieber bei uns, als sich bis zum Mittagessen auf der Zelle zu langweilen."

Allmählich trudeln die anderen ein, lassen sich Zeit, nur nicht übereifrig wirken. Einer trägt die blaue Anstaltshose, im Schlepptau hat er drei junge Frauen, die anderen stecken in Jeans und Kapuzenpullis wie Sessler.

In Uganda ließ Sessler die Kinder ihre Fragen anonym auf Zettel schreiben und las sie vor. Von den harten Jungs und Mädels heute fordert sie ein offenes Gespräch. Sie sind 17 bis 20 Jahre alt - wieso sie einsitzen, interessiert Sessler nicht. In einigen Fällen Körperverletzung oder Drogen, in Schulferien ist auch der ein oder andere notorische Schwänzer dabei.

"Wie viele haben den Scheiß eigentlich in Deutschland?"

Was bedeutet die Abkürzung HIV? Rätselraten. "Virus", sagt einer. "Dann bist du am Arsch", sagt die Blonde mit dem kindlichen Gesicht. Und was unterscheidet ein Virus von einem Bakterium? "Ich weiß es, finde es aber immer schwer zu erklären", meldet sich ein schmaler Blasser zu Wort. Sessler holt laminierte Karten hervor. Sie entschuldigt sich für die Grafiken: "Sorry, das ist ein bisschen albern." Die bösen Viren tragen Streetfighter-Montur, die guten Killerzellen Polizei-Uniformen. Aber keiner der Häftlinge lacht.

"Wie viele haben den Scheiß eigentlich in Deutschland?", will der mit der Anstaltshose und dem charmanten Zwinkern jetzt wissen. "Jeder Fünfte", rät einer. Manuela Sessler zählt durch die Stühle: Eins, zwei, drei, vier . . . fünf? Unsicheres Grinsen. "Stellt euch eine voll besetzte Allianz-Arena vor und dann noch ein paar Leute auf dem Rasen", sagt Sessler. Damit lässt sich was anfangen.

Als das erste Mal das Wort "Gummi" fällt, bekommt der Bullige mit dem blauen Auge einen Kicherkrampf. Die anderen schütteln nachsichtig den Kopf, rücken aber auf den Stühlen nach vorn. Spätestens mit der Frage nach den zehn Körperflüssigkeiten, die Menschen austauschen können, sind sie nicht mehr im Jugendgefängnis, jetzt sind sie beim Flaschendrehen im Schullandheim. "Muschisaft", brüllt die Blonde. "Vaginalsekret", schreibt Sessler ohne zu zucken an das Brett. "Lusttropfen", sagt die neben ihr. "Jaja, so was wissen nur wir Frauen. Jetzt seid ihr gefragt!", sagt sie Richtung Jungs.

"Schmodder", sagt der mit dem Auge. "Spucke", aber das müssten Liter sein, sagt der Sanitäter. Zu aller Erstaunen hat er recht. Die Blonde will es jetzt wissen - volle Provokation: "Hatte mal Sperma im Auge, Mann, das hat voll gebrannt!" Jetzt wissen die Jungs nicht mehr, wo sie hingucken sollen. Der Sanitäter tuschelt mit seinem Nachbarn. "Hey. Das ist wichtig. Zuhören!", mischt sich der Charmeur ein. "Kriegen Sie hier eigentlich Geld für?", will er von Sessler wissen. "Nein?" Die Gruppe ist beeindruckt: "Voll korrekt, echt!"

Gleitgel statt Olivenöl

Sessler lädt sie ein, später einmal die Münchner Aidshilfe zu besuchen, nicht nur zum HIV-Test. "Wisst ihr, wieso an Weihnachten ganz viele zu uns kommen?" Drei Monate vorher war das Oktoberfest, die größte Massenorgie der Welt. Und ebenso lange dauert es, bis sich Antikörper im Blut gebildet haben und nachzuweisen sind. Die Gruppe ist bei ihr, keiner macht mehr auf unnahbar. Sessler gibt konkrete Tipps, das kommt an. Den Test muss man nicht beim Hausarzt machen, sonst steht es in der Krankenakte, außerdem kostet es was. Lieber zum Gesundheitsamt oder eben zur Aidshilfe an der Lindwurmstraße. Da gibt es das Ergebnis sofort.

Jetzt rattert es in den Köpfen: Muss man noch aufpassen, wenn beide HIV haben? Wird das Virus beim Oralsex übertragen? Kommt drauf an, ob Luft ans Sperma gelangt dabei, sagt einer der Jungs fachmännisch. "Raus, bevor's kommt", empfiehlt die Aidshilfe und übrigens: Bitte kein Olivenöl als Gleitgel nehmen, damit reißen die Kondome. Schlusswort zu HIV.

Die ersten knurrenden Mägen geben ein gutes, wenn auch unappetitliches Thema zur Überleitung. Heute steht Leber auf dem Speiseplan der jungen Insassen. Und die Leber ist es auch, die durch Hepatitis geschädigt wird. Aber wo sitzt sie eigentlich? Dem Bulligen fällt ein: "Nierenkick!" Als er seinen Fehler bemerkt, meint er: "Egal, ich hau einfach auf alles drauf."

Sessler ignoriert ihn. Anders geht es nicht. Es sind nur zwei Stunden, und es bleibt viel Stoff. "Wir sind keine Moralprediger, die Jugendlichen sollen uns vertrauen und was mitnehmen. Schwierige Themen, die nichts damit zu tun haben, umschiffen wir deshalb."

Die Zeit ist um, zögerlich verlassen die Häftlinge den Raum. Eine gute Gruppe sei das gewesen, sagt Sessler, oft schwiegen sich die Jugendlichen an und tauten erst auf, wenn sie merkten, dass sie bald zurück in die Zelle müssen.

Es klopft am Türstock. Der Charmeur hat noch mal umgedreht: "Hey. Das war echt spitze."

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