61. Filmfestival in Cannes:Der Sprung ins Nichts

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Regisseur Steven Soderbergh präsentiert in Cannes sein kompromissloses Experiment "Che". Benicio Del Toro spielt den Revolutionsführer Che Guevara - und zweifelt dabei nie an seiner Mission.

Tobias Kniebe

Zu den weniger bekannten Wahrheiten von Cannes gehört es, dass die meistfotografierte Treppe der Welt durchaus nicht auf direktem Weg ins Kino führt.

Regisseur Steven Soderbergh (rechts) mit seinem Hauptdarsteller Benicio Del Toro. (Foto: Foto: Reuters)

Man stellt sich ja gerne vor, dass all die Popstars, Fußballergattinen, Models und L'Oréal-Botschafterinnen, die sich dort im Blitzlichtgewitter tummeln, danach auch den rumänischen Abtreibungsfilm anschauen und auf diese Weise noch was lernen.

Aber weit gefehlt: Kaum sind sie im Inneren des Palasts, verschwinden sie durch einen Seitenausgang, wo eine Flotte von Limousinen nur darauf wartet, sie zu ihren Yachten zurückzubringen. Ein Film, der dieses Muster durchbrechen kann, bei dem sogar Gestalten wie Puff Daddy plötzlich im Kinosessel sitzen, noch dazu bei einer angekündigten Länge von vier Stunden und achtzehn Minuten - der muss dann schon wirklich heiß sein. Wie Steven Soderberghs "Che".

Was natürlich ein Missverständnis ist. Che Guevara, wie er heute weltweit gehandelt wird, ist eine Chiffre: Schwarze und rote Flächen formen die Umrisse von Bart, Gesicht und Barett, und je weiter man die Zwischentöne eliminiert, desto wirkungsvoller und ikonischer wird das Bild. Schön wäre es - und auf nichts anderes hofft wohl auch Puff Daddy -, man könnte auf diese Weise den Film zum T-Shirt drehen.

Aber wenn das Kino überhaupt etwas zeigen kann, dann natürlich das Gegenteil: Die unüberschaubare Zahl von Zwischentönen, aus denen sich eine große Idee erst zusammensetzt. So schnell springt Soderbergh ins komplexe Geschehen, über Länder, Schauplätze und Zeiten hinweg, dass bald klar wird: Das hier wird einmal mehr eines seiner kompromisslosen Filmexperimente.

Kann man, so fragt er sich selbst und seine Zuschauer, aus einer dokumentarischen Aneinanderreihung historischer Mosaikstücke das Bild eines Menschen und eines Lebens formen?

Che in Mexiko, die erste Begegnung mit Fidel Castro, beide noch ohne Bart. Che in New York vor der Uno, längst Sieger, Minister, Berufsrevolutionär. Che auf dem Schiff "Granma", noch eher Arzt als Guerillero. Che in den Bergen der Sierra Maestra, mit dem Asthma ringend, auf dem Weg zum Militärführer.

All die Lücken dazwischen muss man selbst schließen, all die Konventionen des Biographischen, die Übergriffe ins Spekulative und Sentimentale, die gewaltsam zurechtgebogenen Spannungsbögen des Biopic fallen weg. Teil eins beginnt mit dem Beschluss zweier Männer, in Kuba eine Revolution zu machen, und endet etwa 300 Kilometer vor Havanna, im endgültigen Augenblick der Erkenntnis, dass die Sache geklappt hat.

Soderbergh interessiert sich so sehr für die technischen Details dieses Erfolgs, dass er unter der Hand zu einem (ziemlich geschickten) Kriegsfilmregisseur mutiert - allein der Häuserkampf in Santa Clara dauert mindestens eine halbe Stunde.

Lesen Sie auf der nächsten Seite, wen Franka Potente in dem Film spielt.

Che andererseits, und das ist sicher die historische Wahrheit, die Soderbergh in endlosen Recherchen und Zeugenbefragungen destilliert hat, zweifelt in all diesen Situationen weder an sich noch an Castro noch an seiner Mission. Ganz gleich, ob er Verräter erschießen lässt, Gefangene verschont, Niederlagen analysiert, Siege abhakt oder eine neue Frau fürs Leben findet - er denkt und argumentiert stets genauso nobel wie mitleidlos, genauso mitreißend wie logisch kohärent.

Soderbergh muss völlig klar sein, dass Kinofiguren so nicht funktionieren. Dass sie ohne Zweifel und Subtext nicht lebendig werden, dass sie manchmal nicht sagen dürfen, was sie wirklich meinen, dass sie ohne Komplexe und uneingestandene Motive nicht existieren.

Doch spätestens wenn die Lichter für eine 15-minütige Pause angehen, ist seine Haltung zu diesem Problem ganz klar: Wenn ich mich zwischen Che und den Regeln des Kino entscheiden muss, entscheide ich mich ganz einfach für Che.

Diese Pause, in der Soderbergh, sein großartiger Hauptdarsteller Benicio Del Toro und alle anderen Schauspieler fast als Einzige auf ihren Sitzen ausharren, als könnten sie sich von der eigenen Arbeit noch gar nicht lösen, ist einer der raren Momente der Hoffnung in diesem Wettbewerb: Ein übler Diktator ist gestürzt, ein Volk nimmt sein Schicksal selbst in die Hand - und der Terror gegen die "Feinde der Revolution" liegt noch in der Zukunft.

Da darf man einmal kurz durchatmen, denn gleich wird es anders weitergehen - und auch sonst lässt das Festival wenig Hoffnung. Kornel Mundruczo aus Ungarn zum Beispiel zeigt in "Delta" ein Geschwisterpaar, dass sich mitten in der Wasserwüste der Donau-Mündung ein neues Leben aufbaut, und die Natur ist faszinierend präsent um sie herum - aber dann zerstört der Mensch, die räuberische Bestie, doch wieder alles.

Oder Lucretia Martel mit ihrem argentinischen Gesellschaftsbild "La Mujer Sin Cabeza - Die kopflose Frau", die verblüffend genau den Alltag eines gutsituierten Familienclans einfängt, aber zugleich symbolisch die verdrängte Schuldhaftigkeit dieses Lebens analysiert.

Verfluchtes Bolivien-Abenteuer

Dann geht es weiter mit dem zweiten Teil von "Che", jetzt im Jahr 1967, als er all seine Ämter in Kuba schon niedergelegt hat und untergetaucht ist, um die Revolution nach ganz Lateinamerika zu tragen.

Mit einem winzigen Häuflein getreuer Guerilleros fängt er wieder ganz von vorne an, im unwirtlichsten bolivianischen Hochland - und erst in diesem Moment versteht man so richtig, warum das Double-Feature sein musste: Die Siege des ersten Teils werden durch diesen bewussten Sprung ins Nichts erst wirklich spürbar - und das von Anfang an verfluchte Bolivien-Abenteuer, das in Verrat und Indifferenz erstickt, bliebe unverständlich ohne das Wissen, was nur wenige Jahre zuvor alles möglich war.

Die Chronik dieses Wegs in den Tod erzählt Soderbergh dann fast noch besessen-detailreicher als den Triumph zuvor - was unter anderem zur Folge hat, dass Dutzende von Figuren (auch Franka Potente als seine deutsche Kampfgefährtin Tamara Bunke) nie die Chance bekommen, mehr als Statisten eines Bilds der Vollständigkeit zu sein.

Ihr Unglück darüber wird sich allerdings in Grenzen halten: Was als Karriere-Meilenstein und als heißestes Projekt des Filmjahrgangs 2008 in Cannes begann, hat sich zum Schluss in eine völlig andere Erfahrung verwandelt, die nur noch nach ihren eigenen Regeln funktioniert.

© SZ vom 23.05.2008/gdo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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