Große Bühne:Just do it

Große Bühne: Grantly Marshall hat den Traum, Schauspieler zu werden, irgendwann verabschiedet. Er sitzt jetzt tagsüber am Telefon, abends schreibt er Gedichte.

Grantly Marshall hat den Traum, Schauspieler zu werden, irgendwann verabschiedet. Er sitzt jetzt tagsüber am Telefon, abends schreibt er Gedichte.

(Foto: Robert Haas)

Grantly Marshall hat 1978 die American Drama Group gegründet. Aus dem Münchner Studententheater ist ein weltweit agierendes Unternehmen geworden

Von Martina Scherf

Ein One-Way-Ticket und 200 Dollar steckten in der Tasche des College-Absolventen Grantly Marshall aus Salem, Ohio, als er 1971 in München landete. Er hatte keinen Plan, aber große Träume - und einen Abschluss in Theaterwissenschaften. Marshall, damals 22, fand einen Job auf der Olympia-Baustelle und schrieb sich an der Uni ein: Germanistik und Amerikanistik. Ein bisschen Deutsch konnte er schon. Er blieb ein Jahr, dann noch eins. Schrieb Gedichte. Spielte auf Studentenbühnen und gründete 1978 die American Drama Group. Fast 40 Jahre später ist er immer noch da. Der Traum, Schauspieler zu werden, hat sich nicht wirklich erfüllt. Aber aus dem Studententheater von einst ist ein Global Player geworden: mit 1000 Aufführungen pro Jahr in 30 Ländern.

Grantly Marshall geht in Socken. Das Büro mit dem grauen Linoleum ist warm, "ich mag es lieber so, Schuhe engen mich ein", sagt er. Drei Schreibtische stehen in diesem ebenerdigen Raum eines Flachbaus, der dem Amerikahaus als Provisorium dient, solange das Stammhaus am Karolinenplatz renoviert wird. Überall stapeln sich Kisten mit Plakaten und Postsendungen. Fünf Produktionen laufen derzeit parallel. Darunter auch: "Martin Luther King", Untertitel: "America - Dreams and Nightmares". Seit der US-Wahl hat es ungeahnte Aktualität erhalten.

Wenn jetzt wieder 500 000 Menschen gegen die Politik der Regierung in Washington auf die Straße gehen, erinnert das viele ältere Amerikaner an die Sechzigerjahre: Vietnamkrieg, Bürgerrechtsbewegung, die großen Demos. 1967 sprach Martin Luther King in Washington. "Mein Vater sagte damals zu mir: Grantly, da fahren wir hin", erzählt Marshall, "Kings Rede hat mich tief berührt." Ein Jahr später wurde der Bürgerrechtler ermordet.

Und jetzt? Marshall war vor sieben Jahren das letzte Mal in den USA, zur Beerdigung seiner Mutter. "Im Herzen bin ich natürlich immer noch Amerikaner. Ich ärgere mich, wenn die falsche Person Präsident wird und wenn die Cleveland Indians im Baseball verlieren", sagt er. Aber eines sei immerhin beruhigend: "Mehr als die Hälfte der Amerikaner haben Trump nicht gewählt."

Er selbst hätte gerne den Sozialisten Bernie Sanders im Weißen Haus gesehen, gibt er zu. Das liegt wohl in der Familie: Marshalls Vater hat im Ersten Weltkrieg den Militärdienst verweigert und später für die Kommunistische Partei in Ohio kandidiert. Die Mutter stammte aus einer ostjüdischen Familie, "die Geschwister meiner Großmutter sind alle in Konzentrationslagern gestorben". Dennoch gab es diesen Hang zu Europa. "Meine Eltern gaben mir den Spitznamen Chruschti, nach Chruschtschow. Komisch, was?", sagt Marshall und lacht. Tatsächlich ziemlich kurios für eine amerikanische Mittelklasse-Familie. Ebenso ungewöhnlich war, dass zu Hause "Muss i denn zum Städtele hinaus" und "Die Gedanken sind frei" gesungen wurde.

Das Telefon klingelt. Die Schauspieler der American Drama Group, die derzeit durch Frankreich touren, sind mit dem Service im Hotel nicht zufrieden. Es gibt kein Frühstück. "Ich muss da wohl noch ein bisschen Geld drauflegen", sagt Marshall, nachdem er aufgelegt hat. Frankreich sei überhaupt ein schwieriges Terrain für Künstler geworden. "Wir waren nach dem Attentat auf Charlie Hebdo in Paris, und auch bei den Anschlägen auf Le Bataclan und das Fußballstadion." Alle Aufführungen seien danach abgesagt worden, "ein Verlust von zigtausend Euro". Auch jetzt machten die intensiven Sicherheitsvorkehrungen das Spielen in Frankreich schwieriger und teurer.

Marshall ist nur noch selten auf den Tourneen dabei, noch seltener steht er selbst auf der Bühne. "Irgendwann kommt der Punkt, wo du feststellst: Es kann im Leben nicht nur um Ideale gehen, du musst dich auch um die Finanzen kümmern", sagt der Produzent und blickt auf seine Socken. Aber, schiebt er gleich nach: "Reich wird man mit so einem Theater nicht, man kann davon leben." Zum Ausgleich schreibt er immer noch Gedichte und lässt sie in kleinen Bändchen drucken.

Wer in München in den Achtzigerjahren Englisch oder Amerikanistik studiert hat, der hat irgendwann eine Aufführung der American Drama Group gesehen. Das Niveau war beachtlich, Nachfragen kamen bald aus dem benachbarten Ausland. Dann fiel die Mauer, in Osteuropa und Asien wuchs das Interesse an Englisch, und Marshall streckte seine Fühler in immer mehr Länder aus. "Wir haben es einfach probiert. Meine Devise lautet bis heute: Just do it." Jetzt sind seine Truppen von Paris bis Schanghai unterwegs. Jeden Sommer machen sie eine Europatour: 50 Schlösser in elf Ländern - mit Shakespeare.

Die Schauspieler kommen aus England und Amerika, das Repertoire ist weitgehend Standard: "Romeo und Julia", "Macbeth", "The Merchant of Venice". Dickens' "Oliver Twist" und zu Weihnachten "A Christmas Carol". Seit der Jahrtausendwende "Dinner for One". Ein Privatmann war damals zu Marshall gekommen: Ob sie das nicht für seine Feier spielen könnten? "Dinner for what?", antwortete Marshall. "Das war mir völlig unbekannt, auch in England kennt das ja kein Mensch." Sie haben es dann halt gemacht, "just do it" - inzwischen ist die Aufführung im Gasteig Kult. "Schon lustig", sagt Marshall, "dass man damit den Saal voll bekommt."

Mit der Expansion wuchs der Bedarf an neuen Stücken. 1993 fand Marshall in dem britischen Dramaturgen Paul Stebbings und dessen TNT Theater einen Partner, der ihm Stoffe liefert und auch inszeniert. "Wir sind auf der gleichen Wellenlänge", sagt der Amerikaner. Auch "Martin Luther King" schrieb Stebbings und "The Murder of Sherlock Holmes". Seine Tragikomödie "Dracula" läuft seit drei Jahren erfolgreich in vielen Ländern. "Dracula ist ein moderner Mythos, aber durch Hollywood völlig ausgelutscht. Wir haben es von Transsylvania nach Pennsylvania verlegt und als modernes Umweltdrama inszeniert", sagt Marshall. Und im Herbst wird dann ein Stück über syrische Flüchtlinge folgen.

Der größte Teil der Aufführungen sind, abgesehen von der Schlössertour, Schülervorstellungen. Die Verkürzung der Gymnasialzeit bekamen die Theaterleute dabei schmerzhaft zu spüren. "Das G8 bedeutete für uns einen brutalen Einschnitt", sagt Marshall. Nicht nur, weil plötzlich ein ganzer Oberstufen-Jahrgang wegfiel, sondern auch, "weil die Lehrer nicht mehr viel Zeit für die Lektüre der Dramen haben". Der Lehrplan werde nur noch durchgehechelt.

Das war damals anders, 1978, als Marshall mit "Cat on a Hot Tin Roof" (Die Katze auf dem heißen Blechdach), Tennessee Williams' Familiendrama aus den Südstaaten, selbst erstmals auf der Bühne des Amerikahauses stand. Den Big Daddy würde er immer noch gerne spielen, gibt er zu, "aber jetzt sitze ich hier, umzingelt von Flyern, Plakaten und Verträgen".

Dann steht er auf und rezitiert ein Poem, das er schon 1977 schrieb. "Death" heißt es, eine Begegnung mit dem Tod. Warum beschäftigt sich ein damals 28-Jähriger mit dem Tod? Er hatte, so erzählt er, in jenem Sommer den linken Berliner Sozialwissenschaftler Theo Pirker an die Münchner Uni geholt. Ein Sozialist, der die Gewerkschaftsbewegung mitbegründet hatte. "Er hatte im Krieg ein Bein verloren, aber er stand aufrecht am Pult und redete so überzeugend, das hat mich tief bewegt. Ich ging danach in den Englischen Garten und schrieb dieses Gedicht". Er trägt es mit Inbrunst vor.

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