Gräfelfing:Jedes Wort ein Kunststück

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Acht Sechstklässler kämpfen beim Regionalentscheid des Landkreises München West um den Sieg im Vorlesewettbewerb. Chiara aus Gräfelfing überzeugt nicht nur die Jury, auch das Publikum ist hingerissen

Von Laura Zwerger, Gräfelfing

"Dieb! Ich rieche dich, ich spüre deinen Luftzug. Ich höre deinen Atem. Komm! Bediene dich, hier ist genug!" Ganz tief, mit ruhiger Stimme und einem Tonfall, der zugleich gefährlich und gleichgültig, sogar etwas arrogant erscheint, liest Nils Uhlemann aus dem Buch "Der kleine Hobbit" von John R. R. Tolkien vor. Seine Augen fliegen konzentriert über die Zeilen, schnell muss er noch Luft holen, bevor er den nächsten Satz beginnt.

Nils ist einer der insgesamt acht Schüler, die am im Regionalentscheid des Landkreises München West bei dem Vorlesewettbewerb antreten. An diesem Vormittag ruft Petra Walbrunn, Leiterin der Gemeinde- und Schulbibliothek Oberhaching, einen Sechstklässler nach dem anderen auf die kleine schwarze Bühne im Bibliothekssaal. Drei Minuten bleiben jedem Kandidaten, um die Zuhörer mit dem Lesen eine Absatzes aus ihrem Lieblingsbuch in den Bann zu ziehen.

Ganz konzentriert legen die Schüler ihr Buch auf den Tisch vor ihnen, allesamt wirken sie etwas nervös. Beginnen sie aber mit dem Vorlesen, dann ist von der Anspannung kaum mehr etwas zu merken. Lange und oft haben sie ihre Texte zu Hause geübt. Alle Kandidaten mussten zuvor an ihrer Schule ihr Können beweisen. "Die jeweils zwei besten Schüler der sechsten Klassen treten dann an ihrer Schule gegeneinander an, der Sieger ist heute hier," erklärt Ulrich Gock von der Pater-Rupert-Mayer-Realschule in Freising. Er ist der Lehrer von Antonia, in ihrer Klasse haben sie seit sechs Wochen immer wieder Texte im Unterricht geübt.

Antonia hat das Buch "Ostwind - zusammen sind wir frei" von Carola Wimmer für den Vorlesewettbewerb ausgewählt. Die Protagonistin des Buches, ein Mädchen hat ein schlechtes Schulzeugnis bekommen. "Es war so schlecht, dass sie es angezündet und aus dem Fenster geworfen hat", erzählt Antonia, bevor sie mit ihrem Text beginnt. In den Zuschauerreihen hört man leises Kichern.

Wenn das Publikum während des Vorlesens lacht oder erschrocken einatmet, dann ist das ein gutes Zeichen. Eine Jury aus fünf lesebegeisterten Erwachsenen und dem Vorjahressieger Jannick Thedens bewerten neben der genauen Aussprache und dem Lesefluss auch, wie die Kandidaten die Atmosphäre der Geschichte auf das Publikum übertragen. Einen langen Regelkatalog hat der Börsenverein des Deutschen Buchhandels, der den Wettbewerb austrägt, für die Bewertung der Lesefertigkeit festgelegt. Am Ende der ersten Runde beraten sich die Juroren, bevor es in die Endentscheidung geht.

Dann müssen die Schüler einen Fremdtext vorlesen, den Walbrunn und ihr Team vorbereitet haben. "Für alle gut lesbar muss der Text sein," erklärt die Bibliotheksleiterin, "und es sollte sich idealerweise eine schlüssige Geschichte für das Publikum ergeben". Daher werden einzelne Passagen aus dem selben Buch gewählt, dieses Jahr stammen die Fremdtexte aus "Last Secrets: Das Rätsel von Lochness" von Richard Dübell. Der unbekannte Text ist für die Schüler zwar schwerer zu lesen, doch kaum einer verhaspelt oder verliest sich.

Nach eineinhalb Stunden steht der Gewinner des Vorlesewettbewerbs fest, in diesem Jahr strahlt Chiara vom Kurt-Huber-Gymnasium in Gräfelfing. Sie hat aus "Wolfsnacht" von Robert Habeck und Andrea Paluch vorgelesen. Als in dem Buch ein kleiner Junge mitten im Wald auf einen Wolf trifft, war kein Mucks mehr im Büchereisaal zu hören. "Sie hat mitreißend gelesen und das so spannend rüber gebracht", erklärt der Vorjahressieger Jannick die Entscheidung der Jury. Und: "Es war aber knapp, alle waren gut." Nach dem Vorlesewettbewerb bekommen alle Teilnehmer eine Urkunde und das Buch, aus dem die Fremdtexte stammen, als Preis - es soll ja schließlich der Spaß am Lesen gefördert werden. Und das hat auch geklappt, die Kinder lächeln und werden von ihren Eltern beglückwünscht.

Chiara hält stolz ihren Preis, eine Siegerurkunde und zwei Bücher, in ihren Händen. "Ich bin einfach erleichtert und glücklich, dass ich es hinter mich gebracht habe", seufzt sie. 15 mal hat sie die Textstelle in den vergangenen Tagen vorgelesen, vor allem ihre Oma war immer eine geduldige Zuhörerin. Nun braucht das Mädchen ein neues Buch für den Bezirksentscheid in einigen Wochen - und womöglich auch für den Landes- und Bundesentscheid.

© SZ vom 19.02.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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