Gräfelfing:Gerechtigkeit in der Gartenstadt

Weil Eigentümer großer Gräfelfinger Grundstücke benachteiligt werden, stehen der Kommune erbitterte Debatten bevor: Demnächst wird der Gemeinderat erneut über das degressive Baurecht debattieren

Von Annette Jäger, Gräfelfing

Die Steinkirchner Straße in Gräfelfing ist eine feine Wohngegend. Sie ist gesäumt von Villen in großen Gärten mit alten Bäumen. Wenn Gräfelfing Gartenstadt ist, wie sich die Kommune selbst gerne attestiert, dann hier. Und Gartenstadt will Gräfelfing auch bleiben. Um das zu garantieren, leistet sich die Kommune ein in Deutschland einzigartiges Baurecht - zumindest hat der Einzigartigkeit noch keiner widersprochen. Derzeit wird es im Bebauungsplan 1J für das Gebiet rund um die Steinkirchner Straße erneut verankert, was den Unmut mancher Grundstückseigentümer erregt. Einige hegen denn auch den ambitionierten Wunsch, den Gräfelfinger Sonderweg ein für alle Mal zu beenden.

Um die Gartenstadt in ihrer lockeren Bebauung zu bewahren, haben zwei Gemeinderäte der Gruppierung Interessengemeinschaft Gartenstadt (IGG), Dieter Sommer und Klaus Suess, 1972 federführend das degressive Baurecht ausgeheckt - ein Unikum. Im Kern besagt es, dass bis zu einer Mindestgrundstücksgröße das Baurecht linear ansteigt, von einem Schwellenwert an aber nur noch moderat. Man spricht von Degression: Während die Grundstücksgröße steigt, sinkt das Baurecht im selben Verhältnis. Demnach erhalten kleine Grundstücke in Relation gesehen ein höheres Baurecht als große. So wird verhindert, dass diese bis auf den letzten Quadratmeter zugepflastert werden. In Zahlen ausgedrückt heißt das am Beispiel des zur Diskussion stehenden Bebauungsplans: Auf Grundstücken mit einer Größe von 750 Quadratmetern dürfen Gebäude mit rund 300 Quadratmetern Geschossfläche entstehen, auf 1499 Quadratmetern Fläche aber nur wenig mehr: 405 Quadratmeter. Würde auf dem großen Grundstück das lineare Baurecht genauso gelten, dürfte der Eigentümer etwa 100 Quadratmeter Wohnfläche mehr verwirklichen. Weil das Baurecht dies verwehrt, entgehe ihm bares Geld, sagen Kritiker - ein schwerwiegendes Argument angesichts der Immobilienpreise.

Gräfelfing: Allerbeste Wohngegend ist die Steinkirchner Straße in Gräfelfing.

Allerbeste Wohngegend ist die Steinkirchner Straße in Gräfelfing.

(Foto: Catherina Hess)

Das degressive Baurecht gilt im Quartier Steinkirchner Straße schon seit den Achtziger Jahren. Allerdings hat eine Neuauflage des Bebauungsplans 2008 die Bürger zu Protesten animiert. Sie reichten eine Normenkontrollklage ein - das Verwaltungsgericht erklärte den Plan Ende 2012 tatsächlich für ungültig. Der Grund: Die neue Aufteilung des Gebietes in Quartiere mit verschiedenen Mindestgrundstücksgrößen sei zu willkürlich und widerspreche dem Grundsatz der Gleichbehandlung.

Im Klartext: Es war nicht nachvollziehbar, warum der eine mehr, der andere weniger bauen durfte. Jetzt hat die Gemeinde nachgebessert und einheitliche Mindestgrundstücksgrößen von 750 Quadratmetern verankert. Der neue Plan war bis Mitte März öffentlich ausgelegt - die Anwohner protestierten erneut. In ihren Augen ist es immer noch nicht gerecht. Das reduzierte Baurecht auf großen Grundstücken komme einer Teilenteignung gleich, argmentiert Ralf Brandtner, SPD-Gemeinderat. Er kritisiert, Baurecht werde in Gräfelfing nach "Gutsherrenart" verteilt. Während der Überarbeitung des Bebauungsplans 1J sei dem einen ein wenig genommen, dem anderen ein wenig gegeben worden - Baurecht sei von einem Grundstückseigentümer zum anderen "gewandert". Ein anderer Eigentümer, der nicht namentlich genannt werden möchte, findet das Baurecht für Außenstehende nicht nachvollziehbar. Es berge die "Gefahr der Manipulation".

Gräfelfing: So soll es bleiben, finden die Gemeinde-Politiker und haben eine eigene Lösung.

So soll es bleiben, finden die Gemeinde-Politiker und haben eine eigene Lösung.

(Foto: Catherina Hess)

Natürlich greife die Gemeinde mit dem Bebauungsplan in das Eigentum ein, sagt Markus Ramsauer vom Bauamt. Aber sie verfolge ein öffentliches Interesse damit, das degressive Baurecht sei ein Instrument zur Ortsgestaltung. Dass dies erlaubt ist, hat das Gericht in seinem Urteil von 2012 ausdrücklich bestätigt. Es ist die Kunst der Abwägung, die das System in den Augen der Befürworter gerecht macht: Das Interesse des Eigentümers, der die größtmögliche Bebaubarkeit wünscht, und das Interesse der Kommune, den Ortscharakter zu wahren, gelte es, in Ausgleich zu bringen, erklärt Ramsauer. "Der Verlust an Eigentum muss begründet werden." Beim 1J ist es im ersten Anlauf missglückt. Und die Auseinandersetzungen sind nicht zu Ende. Derzeit laufen noch zwei weitere Klagen gegen neu überarbeitete Bebauungspläne.

Die Einsprüche der Eigentümer würden in den kommenden Wochen im Bauamt aufbereitet, bewertet, gewichtet, sagt Ramsauer. Voraussichtlich im Juni werden sie im Bauausschuss der Gemeinde debattiert. Schon jetzt hat ein Grundstückseigentümer im betroffenen Gebiet angekündigt, es werde erneut eine Klage geben. Das Ziel sei, so lange zu klagen, bis es gerecht sei, sagt Brandtner. Und das ist es nach Meinung einiger Kritiker nur, wenn das degressive Baurecht ganz gekippt wird.

Der Unmut sei nicht neu, meist äußerten ihn diejenigen, die gerade ein Bauvorhaben verfolgten, gleichzeitig aber dem Nachbarn so wenig Baurecht wie möglich zugestehen wollten, sagt Petra Schmid (CSU). "Der Gräfelfinger an sich ist stolz auf sein Baurecht." Sie plädiert für den "goldenen Mittelweg" in der Abwägungsdebatte. Oder wie es ein Gemeinderat einer Nachbargemeinde ausdrückt: "Wenn am Schluss alle ein bisschen unzufrieden sind, hat man es richtig gemacht."

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