Gräfelfing:Brückenbauer zwischen Ost und West

Mit einer koreanischen Grabzeremonie wird jedes Jahr im März des Schriftstellers Mirok Li gedacht. Er musste 1919 vor den japanischen Besatzern aus seiner Heimat fliehen und gehörte im Exil zum Gelehrtenkreis der Gräfelfinger Waldkolonie

Von Annette Jäger, Gräfelfing

So mancher Friedhofsbesucher nähert sich der großen Gesellschaft, die sich im hinteren Teil des Gräfelfinger Friedhofs am Samstagnachmittag vor einem Grabmal versammelt hat, mit fragendem Blick. Vor dem Grab ist ein niedriger Tisch aufgebaut, auf dem farbenprächtige Speisen dekoriert sind: Trauben und Orangen, Tintenfisch, zu Blumen arrangierte Eier, gedörrter Fisch, Huhn und Schweinebauch, Reiskuchen und exotisch aussehende Süßigkeiten. Auf einer Bastmatte davor knien zwei Männer, sie entzünden Räucherstäbchen, lassen nacheinander einen mit Schnaps gefüllten Becher kreisen, dessen Inhalt dann über dem Grab verschüttet wird. Jeder der beiden verbeugt sich tief vor dem Grab. Andere Gäste tun es ihnen gleich.

Es ist eine koreanische Grabzeremonie, die jedes Jahr im März vor dem Grab des 1950 gestorbenen Schriftstellers und Gelehrten Mirok Li abgehalten wird. An die 40 Gäste haben sich um das Grabmal versammelt, das wie eine kleine Tempelskulptur aussieht. Darunter der Leiter des südkoreanischen Kulturzentrums in Berlin, Sehoon Kwon, der Honorarkonsul der Republik Korea, ein Vertreter des südkoreanischen Konsulats in Frankfurt und vor allem Song Joon-Kun, Gründer der Mirok Li Gedächtnisgesellschaft in München, der die Zeremonie vor vielen Jahren ins Leben gerufen hat. Daneben sind Gäste der koreanischen Gemeinde in München gekommen. Wer nach der Verbindung des verehrten koreanischen Gelehrten zur Würmtalgemeinde Gräfelfing sucht, findet eine Lebensgeschichte, die bis in die Gegenwart ausstrahlt: Es geht um das Dasein als Flüchtling und um Integration.

Gräfelfing Friedhof. Hier feiert die Mirok Li-Gedächtnisgesellschaft München/Seoul jedes Jahr eine Zeremonie am Grab des koreanischen Schriftstellers Mirok Li, der 1950 in Gräfelfing gestorben ist und hier im Exil lebte.

Die Grabzeremonie zu Ehren von Mirok Lihielten Song Joon-Kun (Mitte) und Sehoon Kwon (rechts).

(Foto: Florian Peljak)

Bis nach Gräfelfing war es ein weiter Weg für Mirok Li. 1919 floh der damals 20-Jährige, der als Student an Protesten gegen die japanische Besatzung teilgenommen hatte und verhaftet werden sollte, aus seiner Heimat. Er musste seine Frau und seine beiden kleinen Kinder zurücklassen, die er nie wiedersehen sollte. Über die Hafenstadt Shanghai gelangte er nach Deutschland. Mirok Li fasste zunächst in Würzburg Fuß, studierte Medizin, später Zoologie in München, beschäftigte sich daneben aber leidenschaftlich mit den Geisteswissenschaften und der ostasiatischen Kultur.

An der Uni in München besuchte er die Vorlesungen von Professor Kurt Huber, der in Gräfelfing lebte und 1943 von den Nazis hingerichtet wurde. Es entstand eine Freundschaft zwischen den beiden Männern und damit die Verbindung zu Gräfelfing. Von Ende der 1920er Jahre an wurde Mirok Li ein fester Bestandteil des Gelehrtenkreises der Gräfelfinger Waldkolonie, erzählt Friederike Tschochner, die frühere Archivarin der Gemeinde Gräfelfing. Professoren der Literatur, Kunstgeschichte und Germanistik lebten damals in der Waldkolonie in regem Austausch, berichtet sie. Mirok Li besuchte auch den Gesprächskreis "Montags-Kolloquium" der Literarischen Gesellschaft in Gräfelfing. Einer der Kolonie-Intellektuellen, der Kunstgeschichte-Professor Alfred Seyler, nahm den jungen Koreaner bei sich auf. Mirok Li lebte mit der Familie Seyler bis zu seinem Tod am 20. März 1950. "Er war ein Musterbeispiel an Integration", urteilt Friederike Tschochner.

Gräfelfing: Flüchtling, Schriftsteller, Gelehrter: Mirok Li ist in Gräfelfing begraben.

Flüchtling, Schriftsteller, Gelehrter: Mirok Li ist in Gräfelfing begraben.

(Foto: Mirok Li Gedächtnisgesellschaft)

Während seiner Zeit in Gräfelfing veröffentlichte Mirok Li von den frühen 1930er Jahren an Texte über Korea in Zeitschriften. Bekannt wurde er aber durch seinen autobiografischen Roman "Der Yalu fließt", der 1946 auf Deutsch im Münchner Piper Verlag erschien und ein Bestseller wurde. Mirok Li beschreibt darin einfühlsam die Kultur und die Menschen seiner Heimat. Das Buch wurde später ins Koreanische übersetzt und Mirok Li eine Art Nationalheld. In Südkorea ist das Buch heute zum Teil Schullektüre, sagt Jörg Friedrich von der Mirok Li Gedächtnisgesellschaft. Der Roman wurde 2008 vom Bayerischen Rundfunk verfilmt. Mirok Li gilt als Vermittler zwischen den Kulturen: Verwurzelt in der neuen Heimat Deutschland, im Geiste immer eng verbunden mit seiner koreanischen Herkunft. Ein Brückenbauer zwischen Ost und West wird er genannt.

"Jeder Mensch ist Teil von dieser Welt, unabhängig von Herkunft und Religion", zitiert eine junge Frau bei der Zeremonie die Lebenshaltung des Exil-Koreaners. Nach der Zeremonie verzehren die Gäste die mitgebrachten Speisen. Unweit vom Grab Mirok Lis, gleich hinter der Friedhofsmauer, sind die Wohnhäuser der Flüchtlingsunterkünfte zu sehen, in denen viele syrische und afghanische Familien leben. Die Themen sind heute wieder dieselben wie damals, als Mirok Li nach Deutschland kam: Flucht und Integration. Mirok Lis Lebensgeschichte zeigt, wie beides zusammenfinden kann.

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