Gespräch zwischen Alt und Jung:"Es war so grau - und das im August"

Der Zimmermann Natale Curci kam 1959 in einem promitiven Zug als Gastarbeiter nach München, schlief auf Stroh und in Baracken. Die Salesmanagerin Alida Berto steigt 1995 in München aus ihrem Auto. Sie findet keine Wohnung, geht aber trotzdem nicht mehr zurück. Ein Gespräch über damals und heute.

Birgit Lutz-Temsch

Der Zimmermann Natale Curci aus Noci in der Nähe von Bari musste sich 1959 bei der Anwerbekommission ärztlich untersuchen lassen, kam in einem Zug mit Holzbänken nach München, schlief die ersten Tage auf Stroh und die ersten Jahre in Baracken. Trotzdem sagt er: Wir hatten es damals einfacher als die jungen Leute heute. Die Salesmanagerin Alida Berto aus den Marken kam 46 Jahre später nach München. Sie fand keine Wohnung, vermisst Italien manchmal, weiß aber trotzdem nicht, ob sie je zurück gehen wird.

Gespräch zwischen Alt und Jung: Natale Curci

Natale Curci

(Foto: Foto: Hess)

Curci: Ich habe etwas mitgebracht, sehen Sie, das ist mein Arbeitsvertrag von damals. Ich war 36, noch nicht verheiratet, und ich kam allein. So wie alle - es durfte ja keiner seine Frau mitbringen. Berto: Sie mussten Ihre Frauen zuhause lassen? Curci: Ja. Aber am Anfang wäre das auch gar nichts für Frauen gewesen. Wir wohnten in Baracken, in winzigen Zimmern, zu viert, zu fünft, alles Männer. Die ersten Tage haben wir auf Stroh geschlafen!

Berto: Wann kamen dann die Frauen? Curci: Erst viel, viel später, als es erlaubt war, sie nachzuholen. Und wenn es einem gelungen war, eine Wohnung zu finden. Berto: War das damals auch schon so schwierig wie heute? Curci: Oh ja. Nun, alleine oder zu zweit funktionierte es schon. Aber kaum haben die Leute gehört, dass man auch Kinder hatte - vorbei. "Tut mir leid" haben sie immer gesagt.

SZ: Haben Sie manche Wohnungen auch deshalb nicht bekommen, weil sie Italiener waren? Curci: Natürlich. SZ: Ist das heute auch noch so? Berto: Ja, da bin ich ziemlich sicher. Curci: Aber nein, das stimmt nicht. Berto: Nun, ich habe den Eindruck, dass es nicht einfach ist. Ich bin eine alleinstehende Frau - das erscheint vielen vielleicht schon suspekt. Aber in meinem Beruf habe ich oft mit Neueinstellungen zu tun. Diese jungen Leute haben alle Studienabschlüsse, gute Arbeitsverträge, verdienen eine Menge Geld, aber es dauert eine Ewigkeit, bis sie hier eine Wohnung finden. Das ist schwer zu greifen, es ist eher unterschwellig. Gewöhnlich finden sie erst etwas, wenn sie jemanden kennen, der sie als Nachmieter empfiehlt. Mir selbst zum Beispiel ist es nie gelungen, ein Appartement zu mieten. Ich lebe in der Wohnung einer Freundin. Curci: Ach, ich glaube, heute ist es sehr einfach. Sie wissen ja nicht, wie es früher war! Heute gibt es wenigstens Wohnungen. Als ich herkam, gab es nichts, so kurz nach dem Krieg. Da fing man ja gerade erst mit dem Wiederaufbau an. Zuerst kamen die Firmen und die Infrastruktur. Das große Wasserreservoir in Baierbrunn, Siemens in Ramersdorf - da hab ich überall mitgebaut. Dann erst ging es mit Wohnhäusern weiter. Wo heute Neuperlach ist, haben damals noch Schafe gegrast.

"Es war so grau - und das im August"

SZ: Wieso hatten sie sich entschlossen, nach Deutschland zu gehen? Curci: Bei uns im Süden gab es wenig Arbeit, und die Arbeit, die es gab, war schlecht bezahlt. Also hab ich mir gedacht, ich versuche es hier. Ich kam an - der Himmel war grau, ein Gewitter, Blitze, und das im August! Berto: Bei mir war es genauso! Alles war grau! Eiskalt. Unglaublich. Curci: Kurz vor Weihnachten habe ich gesagt: Ich geh wieder nach Hause. Aber dort hatte sich ja nichts verändert, die Bedingungen waren schlecht und würden auch schlecht bleiben. Also wollte ich es noch mal versuchen. Für ein Jahr. Das Jahr ging vorbei, dann noch eins. Und schließlich ist mein halbes Leben hier vergangen. In München. Wann sind Sie hierhergekommen? Berto: Am 22. November 1995. Es war so kalt! Dieser Wind! Aber gut, man gewöhnt sich daran. Curci: Als sie kamen war Frühling im Vergleich zu meiner Anfangszeit! Anfang der Sechziger hatten wir 30 Grad unter Null. Stellen Sie sich das mal vor! Berto: Und dann diese Sommer hier. Kaum ist es August, regnet es, was geht. Das kann ein Italiener einfach nicht akzeptieren, das ist das Schlimmste was es gibt.

Gespräch zwischen Alt und Jung: Alida Berto

Alida Berto

(Foto: Foto: Hess)

SZ: Dann war Ihrer beider erster Eindruck, dass Sie gleich wieder umdrehen wollten? Curci: Oh ja. Damals schon. Aber das sollte sich ändern! Berto: Ach, so schlimm war es nicht. Ich hatte anfangs vor, nur ein paar Monate zu bleiben und die Sprache zu lernen, es war wie Urlaub. Ein kalter Urlaub.

SZ: Herr Curci, Sie haben noch das ganze Anwerbeverfahren mitgemacht. Curci: Oh ja. Ich bin von Bari nach Verona gefahren, zur Kommission. Dort sind wir von deutschen Ärzten untersucht worden, aber von Kopf bis Fuß, darüber will ich gar nicht reden. Wenn einer ein Loch im Zahn hatte, war er schon draußen, das stelle man sich mal vor. Dann sind wir in die Arbeiterzüge eingestiegen, da gab es gerade mal Holzbänke. Normale Reisende fuhren gar nicht mit denen. So etwas haben Sie wohl nicht über sich ergehen lassen müssen! Berto: Oh nein! Ich bin einmal mit dem Nachtzug gefahren, und fand den schon ganz schön schlimm. Für mich war es sehr einfach, hierherzukommen.

SZ: Auch kein bürokratischer Aufwand? Berto: Absolut nicht. Das hat mich schwer beeindruckt. Als ich Arbeit gefunden hatte, ging ich zum Kreisverwaltungsreferat, habe ein Formular ausgefüllt und dann musste ich mich noch bei der Krankenkasse anmelden, fertig. Wenn man sich das in Italien vorstellt! Curci: Ha, da müsste man wohl eine Woche lang jeden Tag mit einem anderen Formular kommen, Schlange stehen und andere Stempel abholen. Berto: Dabei sprach ich da noch nicht mal richtig Deutsch. Und trotzdem ist mir das gelungen. Auch sonst, ich konnte vieles gar nicht fassen: Ich schicke einen Brief, und der kommt am nächsten Tag an. Ich habe etwas bestellt, in der Arbeit, und die Sachen kamen, am Tag an dem ich wollte, zur verabredeten Uhrzeit - ich dachte, das gibt's ja nicht. Ich habe vorher in Italien gearbeitet, und als ich hierher kam, habe ich gesehen, das ist eine andere Welt. Und dann ist München auch noch so eine schöne Stadt. Auch wenn Hamburg und Berlin mir gefallen - ich lebe lieber in München. Abgesehen davon, dass es dort noch grauer ist, ist es hier einfach sicherer. Curci: München ist ja überhaupt erst 1972 zu einer richtigen Stadt geworden. Vorher war es nur ein großes Dorf. Aber mit den Olympischen Spielen ist München zu einer wunderschönen Stadt geworden.

SZ: Wo haben Sie gewohnt, als Sie hierherkamen? Berto: Zuerst in einem Studentenwohnheim. Für jemandem wie mich, der bis dahin - und da war ich schon 30 - immer bei den Eltern gelebt hat, war das wunderbar. Dann bin ich in eine Wohngemeinschaft umgezogen - das kennt man bei uns gar nicht so. Das waren alles interessante, lustige Erfahrungen für mich, die mir sehr geholfen haben, mich in die deutsche Kultur und die Stadt einzuleben. Das war bei Ihnen vielleicht schwieriger, Herr Curci? Curci: Wir waren schon viel unter uns, aber wir haben ja mit Deutschen zusammen gearbeitet. Die wollten dann von uns Italienisch lernen, und wir von ihnen Deutsch. Jeder von uns war allein hier - die Deutschen haben uns dann auch mal mit nach Hause genommen. Ich würde sogar sagen, dass damals mehr Harmonie zwischen Deutschen und Italienern geherrscht hat, es war fast familiär. Wir haben zusammen gekocht, gegessen, die Teller gespült, wir hatten ja keine Ahnung vom Alleinleben.

SZ: Herr Curci, wo haben Sie Ihre Frau kennengelernt? Curci: Unten in meinem Dorf, 1965. Unsere Hochzeitsreise haben wir nach München gemacht. Und dann sind die Töchter gekommen. 1966 die erste, 1970 die zweite, und 1979 die dritte. SZ: War dann klar, dass Sie hierbleiben würden? Curci: Immer mehr, ja. Die Kinder sind in die deutsche Schule gegangen und haben auch italienisch gelernt. Aber wenn wir in den Ferien in unser Dorf gefahren sind, war Ihnen bald langweilig. 'Papa, wir wollen nach Hause', haben sie gesagt. Und das war in Deutschland, das Zuhause. Die Mädchen haben alle gute Berufe, haben geheiratet, wir haben schon fünf Enkel. Keine denkt daran, nach Italien zu gehen.

SZ: Frau Berto, werden Sie für immer hier bleiben? Berto: Das weiß ich nicht. Es erscheint mir aber möglich - ich bin noch auf der Reise, würde ich sagen. Ich wüsste gar nicht, wie es mir jetzt in Italien gehen würde, nach den Jahren im Ausland. Im Arbeitsbereich wäre es sehr schwierig, mich wieder einzugewöhnen.In meinem Dorf hat sich nichts verändert. Die Leute haben vielleicht eine andere Haarfarbe, aber der Rest, die Art, wie alles abläuft, ist immer noch die gleiche. Curci: Da hat sich nichts geändert. Berto: Meine Freunde sind hier, meine Arbeit ist hier. Manchmal dachte ich, in Italien wäre vielleicht einiges leichter für mich. Aber da bin ich mir heute nicht mehr so sicher. Curci: Was soll denn da einfacher sein? Berto: Nun, zum Beispiel die Sprache, vor allem in der Arbeit. Wenn ich jemanden wirklich von meinen Ideen überzeugen will, ist das schwer in Deutsch. Und dann geht es in Italien ruhiger zu. Hier ist man immer gehetzt. Und seit 2001 ist dieser Stress noch viel größer geworden.

SZ: Herr Curci, haben Sie sich je gedacht, dass Deutschland Sie schlecht behandelt? Als man Sie holte und nicht mal ein Bett für Sie hatte, zum Beipiel? Curci: Nein. Das wusste man ja. Sie haben uns gesagt, dass wir in den "Lagern" schlafen würden, wo auch das Material aufbewahrt wurde. SZ: Ist es gut, wenn heute noch junge Italiener kommen? Curci: Heute noch herzukommen, ist nicht mehr empfehlenswert. Aus vielen Gründen. Es gibt wenig Arbeit. Es ist schwierig, Wohnungen zu finden. Ich verstehe nicht, dass Leute hierher kommen, ohne sich das vorher genau zu überlegen. SZ: Ist es früher trotz der beschwerlichen Umstände einfacher gewesen? Curci: Natürlich! Aus vielen Gründen. Gut, wir mussten diese fürchterliche Untersuchung hinter uns bringen. Aber wir waren jung und gesund, wir wollten arbeiten - und es gab genug Arbeit.

SZ: Vor allem in Süditalien gibt es schon seit Monaten Feierstunden zu Ehren der Gastarbeiter. Macht es Ihnen etwas aus, dass der jetzige Jahrestag des Anwerbevertrags in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend unbekannt ist? Curci: Naja, die Stadt München hält ja eine eine Feierstunde ab. Das geht alles von den Deutschen aus! Von den italienischen Behörden, vom Konsulat hier - da kommt leider gar nichts. Berto: Vor diesem Gespräch wusste ich nicht einmal, dass es den Anwerbevertrag gegeben hat, mit diesen ärztlichen Untersuchungen und all dem. Dabei kenne ich viele Leute, die damals nach Deutschland gekommen sind. Ich habe sogar Verwandte, die es wohl so gemacht haben müssen - die werde ich jetzt mal danach fragen.

SZ: Fehlt Ihnen Italien? Berto: Unter persönlichen Gesichtspunkten fehlt mir mein Zuhause schon, aber das ist vielleicht auch mehr ein Traum, eine Chimäre. Curci: Mir nicht. Überhaupt nichts. Italien kann bleiben, wo es ist. Die Sonne vielleicht. Ja, die Sonne schon.

(SZ vom 9.12.2005)

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