Geschichte:Schwabinger Zeitreise

Ein neues Buch dokumentiert den Wandel vom Dorf zum Arbeiterort und dann zur Künstlerhochburg - und räumt mit manch verklärenden Mythen auf

Von Stefan Mühleisen, Schwabing

Mit seinen riesigen Atelierfenstern wirkt das Pavillonhaus an der Georgenstraße 40 (heute Konradstraße 8) wie ein Prototyp des Schwabinger Künstlertums. Hier also mietete sich Anton Ažbe ein, der Gräfin Franziska zu Reventlow das Malen beibrachte. Das Haus ist ein Teil der großen Erzählung vom Mythos der Schwabinger Boheme. Ein legendärer Ort, der aber nur ein Teil der realen Schwabinger Geschichte ist.

Auf diesen Umstand legen Michael Stephan, der Leiter des Stadtarchivs, und der Historiker Willibald Karl, ehemaliger Leiter der Volkshochschule, großen Wert. Die beiden haben ein neues Schwabing-Buch herausgebracht - und das Bild des Atelierhauses, wo viele berühmte Künstler wie Erich Kubierschky und Gustav Bauernfeind ein- und ausgingen, ist eine von Dutzenden, bisher unveröffentlichten historischen Fotografien, die darin abgedruckt sind. "Schwabing. Zeitreise ins alte München" (Volk Verlag) ist der achte Band der Zeitreise-Reihe über Münchner Stadtviertel; es erscheint pünktlich im 125. Jahr der Eingemeindung Schwabings. Das Buch ist der Versuch, das legendäre und das reale Schwabing zu beschreiben und abzubilden - und das ist gut gelungen. "Schwabing ist im Gegensatz zu anderen Stadtvierteln eben nicht nur ein topografischer Ort, sondern auch ein ,geistiger Zustand'", schreibt Michael Stephan im Vorwort.

Allerdings: Braucht's das, noch ein Buch über Schwabing? Stephan und Karl listen im Anhang knapp 100 Literaturtitel auf. Die Schwabinger Historie, so scheint es, ist weidlich erforscht. Doch der Schein trügt. Das Buch ist aus mehreren Gründen verdienstvoll: Archiv-Chef Stephan hat einen wahren Bilderschatz der Jahre 1850 bis 1920 aus den Beständen gehoben. Vor allem der umfangreiche Nachlass des "Schwabing-Professors" Theodor Dombart beschert der Öffentlichkeit fast vergessene, vom Krieg zerstörte und von der Geschichte verschluckte Stadtansichten.

Dombart (1884 - 1969), Architekturprofessor und Heimatforscher, veröffentlichte zahlreiche Publikationen über Schwabing. Und er dokumentierte den Wandel des alten Dorfes zum urbanen Stadtviertel. Festgehalten hat er etwa eine anrührende Szene von fünf Mädchen, sie stehen stramm aufgereiht, in aufsteigender Größe wie die Daltons im Lucky-Luke-Comic, vor einem schlammigen Erdwall an der Haimhauser Straße, im Hintergrund der Ruhland-Hof am Schwabinger Kirchberg. Das Haus, die Kinder, die ärmliche Szenerie - es ist der echte, der unverklärte Teil Schwabings. Das ist die zweite Leistung des Buches: Stephan stellt heraus, dass sich Schwabing im 19. Jahrhundert vom Dorf zunächst zur Arbeitergemeinde wandelte - nicht zur Künstlerhochburg. Noch vor der Eingemeindung im Jahr 1890 führte die selbstständige Stadt Schwabing die elektrische Straßenbeleuchtung ein; München setzte damals noch auf Gaslampen. Die habe dem Stadtbild Schwabings ein "etwas amerikanisches Aussehen" gegeben, so Stephan.

Erhellend sind vor allem seine Ausführungen über Wirken und Nachhall der Schwabinger Boheme, ein weiterer anerkennenswerter Beitrag, den das Buch leistet. Stephan ordnet die Legendenbildung historisch ein und knüpft die damit verwobenen Erinnerungsfäden bis in die Gegenwart. Er zeigt anhand der gut überlieferten Memoirenliteratur, dass sich die Protagonisten teils selbst historisierten, sich also aktiv einschrieben in die Wahnmoching-Historie. "Hier wird der einmal erlangte Ruf Schwabings über Jahrzehnte hinweg tradiert und gefeiert, aber auch verklärend glorifiziert", schreibt Stephan.

Er kann sich etwa die Bemerkung nicht verkneifen, dass die beiden Schriftsteller Josef Ruederer und Thomas Mann als Bohemiens in Schwabing begonnen hätten - später aber, zu Ruhm und Geld gekommen, "ganz bürgerlich in ihren neuen Villen in Bogenhausen lebten". Indes: Der Mythos lebt weiter, wie der Archivchef resümiert. Denn es gibt den Schwabinger Kunstpreis sowie den Künstlerkreis "Traumstadt Schwabing"; erfunden hat ihn einst Peter Paul Althaus, um den Geist der Boheme wach zu halten.

Es war jedoch eine gute Entscheidung, den Bilder-Teil vom Boheme-Personal gänzlich frei zu halten. So blieb viel Platz für die fotografische Dokumentation des alten Schwabings. Dabei war es eine kluge Idee, die Bilder in acht Rundgängen zu ordnen. Ediert hat sie Willibald Karl, vielen Münchnern bekannt von ungezählten Stadtrundgängen, die er führt. Dem Leser steht nun eine Art historisches Google Street View zur Verfügung; mit dem Buch in der Hand kann man zum Beispiel zu dem Nachkriegsbau an der Konradstraße 8 spazieren und darüber sinnieren, wie es wohl war, als hier noch das berühmte Atelierhaus stand.

Michael Stephan, Willibald Karl: Schwabing. Zeitreise ins alte München, Volk Verlag, 24,90 Euro

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