Gesangsprobe:Kleine Stars und scheue Talente

Beim Kindercasting im Deutschen Theater bewerben sich Mädchen im Alter zwischen sieben und elf Jahren für eine Gesangsrolle im Musical "Evita". Aufregend ist das für alle, doch wirklich Nerven kosten oftmals die ehrgeizigen Eltern

Von Thomas Jordan

Für einen kurzen Moment ist Nastassja Hermann, acht Jahre, barbieblonde lange Haare, schwarzes Outfit, verwirrt. Als ihr Name gerufen wird, steuert sie wie selbstverständlich auf die Bühne im neobarocken Silbersaal des Deutschen Theaters zu. Martin Flohr, gegelte Haare, Seitenscheitel, freundlich-forscher Ton, weist sie schmunzelnd darauf hin, dass sie sich auf den weißen Punkt vor dem Pult vor ihm stellen soll, auf dem schon 15 Mädchen vor ihr gestanden haben.

Flohr ist künstlerischer Leiter der Produktionsfirma, die im April im Deutschen Theater Andrew Lloyd Webbers Musical "Evita" über das glamouröse Leben der argentinischen Volksheldin und Präsidentengattin Eva Perón, genannt "Evita", auf die Bühne bringt. An diesem Nachmittag sucht er gemeinsam mit dem britischen Komponisten Gary Hickeson aus gut 20 Mädchen im Alter zwischen sieben und elf Jahren ein paar aus, die in wechselnder Besetzung eine kleine Gesangsrolle in dem Musical übernehmen. Gesucht wird ein Mädchen, nicht größer als 1,40 Meter, das mit dem Lied "Santa Evita" den Höhepunkt der Glorifizierung der einfachen Tochter vom Lande markiert, die es bis zur Filmschauspielerin und weltweit bekannten Arbeiterführerin brachte. Der Song erklingt in einer Kirche, das kleine Mädchen trifft dort sein großes Vorbild Evita und singt davon, genauso wie die schöne, erfolgreiche Politikerin sein zu wollen.

Immerhin zwei Strophen lang muss eine Grundschülerin dabei alleine mit ihrer Stimme den Saal im Deutschen Theater ausfüllen, noch dazu auf Englisch. "Ein paar Sekunden" nur brauche er, sagt Hickeson, der als musikalischer Leiter aus England für das Casting hergeflogen ist, dann wisse er, wer für die Rolle geeignet sei. Seit 25 Jahren ist er im Geschäft.

Bei Nastassja Hermann selbst geht das noch schneller: Fragt man sie, was sie später werden will, kommt wie aus der Pistole geschossen, "Popstar!". Dafür nimmt sie einiges in Kauf. Ein typischer Tag sieht bei ihr so aus: bis zwölf Uhr Schule, anschließend Mittagspause, dann von zwei bis sechs Uhr Tanzunterricht, "Klassischer Tanz - und bis vor Kurzem Volkstanz," fügt sie stolz hinzu. Danach Abendessen, spätabends noch Hausaufgaben. An manchen Tagen wird der Tanzunterricht durch die Geigenklasse oder den Schwimmunterricht verkürzt. "Nur am Mittwoch" ruft die Zweitklässlerin, "da hab ich frei." Bis auf das Klettern, "aber das ist kein richtiger Unterricht, das ist Spaß", ergänzt ihre Mutter. Sie hat Nastassja auf die Gesangsrolle aufmerksam gemacht, im Radio hatte sie davon gehört. Macht sie sich manchmal Sorgen, dass das alles zu viel werden könnte für die Achtjährige? "Jetzt gerade habe ich Bedenken, dass es zu stressig ist," sagt die Mutter, als ihre Tochter aufzählt, wie sie ihre Nachmittage verbringt. "Es macht mir aber Spaß", unterbricht die Achtjährige sie energisch. Kurz darauf deutet sie Pirouetten in der Mitte des Barocksaals des Deutschen Theaters an, in dem die jungen Kandidatinnen auf ihren Auftritt warten.

Nastassja Hermann, das Energiebündel, das seine Eltern eher drängt, sie noch mehr zu fördern, das ist der eine Typ Kind an diesem Nachmittag im Deutschen Theater. Nicht alle sind so. Es gibt auch die scheuen Talente, die etwas Zeit brauchen, dann aber umso beeindruckender singen. Eines der Mädchen macht gleich auf dem Absatz kehrt, als es mit seiner Mutter in den Castingsaal gerufen wird. Ein paar Sekunden starrt es wie versteinert auf die Prunkverzierungen an der Wand des Silbersaals. "Was ist denn jetzt los?," entfährt es der Mutter leicht genervt. Flohr, der seit zehn Jahren Kindercastings macht, greift in die pädagogische Trickkiste: "Komm, wir singen zusammen," sagt er zu ihm, steht auf und stellt sich mit dem Mädchen zusammen vor Hickeson. Und plötzlich platzt der Knoten. Was das schüchterne Mädchen dann stimmlich bietet, ist beeindruckend. Hoch konzentriert, sauber und ausdrucksstark singt es die Höhen und Tiefen des Songs "Santa Evita". Das Mädchen ist an dem Nachmittag eines der Besten.

Für die Siegchancen haben die Show-Qualitäten der Teilnehmerinnen in den Augen der Juroren ohnehin nicht viel zu sagen, "auch das Aussehen spielt keine Rolle für diesen Part," beteuert Hickeson. Entscheidend seien nur die "Reinheit der Stimme" und ob die Kandidatin damit umgehen kann, wenn sich mal ein falscher Ton einschleicht. Dennoch sind Casting-Situationen für die Kinder oft eine enorme Belastung. Die Eltern verstärken den Druck meist noch zusätzlich. Einer der nicht wenigen Väter, die sich extra freigenommen haben, um ihre Kinder zum Vorsingen zu begleiten, unterbricht seine schüchterne zehnjährige Tochter bei der Frage, was passiert, wenn sie nicht gewinnt mit der klaren Ansage: "Der zweite Platz ist der erste Verlierer!"

Flohr kennt das: "Wir versuchen, den Kindern ein wenig Freiraum von den Eltern zu verschaffen, wenn sie vorsingen." Deswegen platziert er Mütter und Väter rechts hinten im Silbersaal auf einem Sessel, mit etwas Abstand zum Geschehen. "Sonst würden die ja auch noch mitdirigieren." Er und Hickeson wollen sich von den Castingshows abheben, mit denen die Kinder und Jugendlichen im Fernsehen berieselt werden und in denen sich direkt nach dem Auftritt der Daumen hebt oder senkt. Die Nachricht, wie es ausgegangen ist, kommt daher für alle Beteiligten erst am nächsten Tag.

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