Geruchsseminar:Wie München riecht

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Die Chemikerin Sissel Tolaas analysiert den Duft Münchens. (Foto: Konrad Fersterer)

Kann man Angst riechen? Und wie duftet eine Stadt? Sissel Tolaas experimentiert mit Gerüchen und erforscht für die Industrie, wie sie auf Menschen wirken. In München hat sie einen Schnupperkurs gegeben - ganz im wörtlichen Sinne. Eine Begegnung.

Von Benedikt Laubert

Das Kunstwerk riecht nach Bier, gebratenem Fleisch und teurem Parfum. Trotzdem nimmt es kaum jemand wahr. Vielleicht, weil es überall in München so riecht. Das findet zumindest die Norwegerin Sissel Tolaas. Sie hat den typischen Geruch Münchens eingefangen und chemisch nachgebaut. Nun verbreitet sich ihr München-Duft in einer Passage in der Innenstadt. Für Stockholm, Berlin, Mexico City und andere Städte hat Tolaas sogar ganze Geruchsstadtpläne entwickelt.

Tolaas ist sich bewusst, dass kaum einer, der nicht eingeweiht ist, ihr Kunstwerk entdeckt. "Weil sich Menschen nur auf optische und akustische Eindrücke stützen, vernachlässigen sie die Nase, ein sehr sensibles und intelligentes Organ", sagt sie. Am Wochenende hat sie im Rahmen des Projektes " A Space Called Public" ein zweistündiges Geruchsseminar in München gehalten.

Fast 30 Interessierte sind gekommen, um im U-Bahnhof Marienplatz Geruchsproben zu sammeln. Julia Jakisch schaut sich um - keiner scheint sie zu bemerken. Schnell geht die Studentin in die Knie und schnuppert am Münzschlitz eines Fahrkartenautomaten. Mit einem Stück Küchenrolle wischt sie mehrmals über das Metall. Andere Teilnehmer sammeln Zigarettenstummel und Brösel säuberlich in Gläsern. Tolaas, eine große blonde Frau mit braungebrannter Haut, freut sich über die Experimentierfreude der Teilnehmer.

Die Norwegerin ist Wissenschaftlerin und Künstlerin und sammelt Gerüche des Alltags um sie zu archivieren. Genau 7630 Duftproben lagern derzeit in ihrem Berliner Archiv - vom Angstschweiß bis zum Zigarettenduft.

Rational riechen können

"Unser Geruchssinn kann viel, aber wir lassen ihn verkommen", sagt sie. "Wenn Sie in eine Stadt kommen - riechen Sie auch die Stadt, die Leute? Den meisten Menschen fällt nur auf, wenn etwas stinkt." Tolaas hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Welt der Gerüche wieder erfahrbar zu machen.

Sie weiß: Gerüche rufen starke Emotionen hervor. Wer sie wissenschaftlich untersuchen will, müsse sich von persönlichen Urteilen wie "eklig" oder "angenehm" trennen, um unvoreingenommen forschen zu können. "Mein Ziel war es, rational riechen zu können", sagt sie. Sieben Jahre hat sie sie gebraucht, um sich den Ekel vor Gerüchen abzutrainieren.

Die studierte Mathematikerin, Chemikerin, Künstlerin und Linguistikerin vereint bei ihren Projekten Kunst und Wissenschaft - zwei Sphären, die gegensätzlicher nicht sein könnten: Hier das subjektive, emotionale Erleben der Gerüche. Dort die streng methodische Untersuchung der Moleküle.

Tolaas' Auftreten passt dazu. Die Stimme der 50-jährigen Frau klingt charmant und rau zugleich, mit Freude und fast kindlich anmutendem Eifer vermittelt sie die wissenschaftliche Expertise. Beim Sprechen gestikuliert sie viel, sie setzt ihren ganzen Körper ein, um sich mitzuteilen.

In einem ihrer wohl ungewöhnlichsten Experimente sammelte die Chemikerin den Angstschweiß von Menschen, die an einer Phobie leiden und sich vor anderen Menschen fürchten, um die Gerüche im Labor chemisch nachzubauen. Die Flüssigkeit stinkt bestialisch - doch in geringen Dosen kann sie auch anders wirken, als man es erwarten würde: Tolaas trug den Duft bei einem Selbstversuch zur schicken Abendgarderobe. Alle wunderten sich über den Gestank, keiner konnte sich vorstellen, dass eine Frau im Abendkleid so stinkt, also suchten sie vergebens nach der Quelle. "An dem Abend zog ich die Männer magisch an und die Frauen hielten Abstand zu mir", erzählt sie vergnügt.

In München geht es um alltäglichere Gerüche. Tolaas und die Teilnehmer haben inzwischen ihre Gläser mit Geruchsproben gefüllt und schlagen nun mit Nägeln Löcher in die Metalldeckel, um die Düfte freizulassen. Dann wird getauscht, jeder riecht an jedem Glas.

Auf das Papier, das die Gläser umhüllt, soll jeder Teilnehmer einen Begriff schreiben. "Kinder können das besonders gut", sagt Tolaas, "sie sind absolut unvoreingenommen und lernen erst von uns, was eklig ist und was nicht." Bis auf einen Jungen sind alle Kursteilnehmer Erwachsene - dementsprechend schreiben sie auf die Gläser nicht nur Bier, Metall oder Ei, sondern auch Iiih, Klo oder Warnung.

Wenn die Worte fehlen

Weil der Geruchssinn in der europäischen Kultur nur eine Nebenrolle spielt, gibt es kaum Wörter, die die etwa 15.000 Gerüche beschreiben, die der Mensch theoretisch wahrnehmen kann. "Wir drücken Gerüche nur mithilfe von Metaphern aus: Es riecht wie Orange", sagt Tolaas.

Für ihre wissenschaftliche Arbeit verwendet sie deshalb Begriffe aus anderen Sprachen, in denen es Wörter für Gerüche gibt. "Die Azteken hatten zum Beispiel viele solcher Wörter." Mit anderen Wissenschaftlern entwickelt sie außerdem eine Kunstsprache, Nasalo, die es jedermann möglich machen soll, alle Gerüche präzise zu benennen, ohne Metaphern verwenden zu müssen.

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Von Benedikt Laubert

Tolaas scheint für die Duftindustrie gefährlich und interessant zugleich zu sein. "Ich habe nichts gegen künstliche Düfte aber unsere Nase verkommt, wenn wir die ursprünglichen Gerüche von Haut, Papier oder Öl nicht mehr riechen sondern immer dieselben künstlichen Aromen, die man den Produkten beimischt", sagt sie.

Der Konzern International Flavors and Fragrances, der zu den weltweit größten Herstellern von Düften zählt, finanziert ihr seit 2004 ein Labor in Berlin. Vielleicht aus Angst vor einer Gegenbewegung zur Duftindustrie, vielleicht wegen der wertvollen Erkenntnisse, die Tolaas' Studien liefern, so lässt sich mutmaßen. Tolaas freut sich jedenfalls über die Unterstützung. "Damit habe ich Equipment zur Verfügung, von dem ich sonst nur träumen könnte", sagt sie.

In München gibt es kein professionelles Equipment, nur die Nase. Dennoch hat die Gruppe Spaß am Raten. "Butterbreze" ist einer der Gerüche, die viele erkannt haben - und gehört damit zu den Ausnahmen.

Zum Schluss greift sich Tolaas ein Glas von der Mitte des Tisches. Begriffe wie Apfel, Zitronengras und Grün stehen darauf. "Was ist da drin?", will die Chemikerin wissen. Die Studentin, die den Geruch eingefangen hat, kramt in ihren Unterlagen, sie schmunzelt, dann sagt sie: "Ich habe einen Fahrkartenautomat abgerieben."

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