Gericht:Qual oder ärztliche Pflicht?

Ein Sohn fordert posthum Schmerzensgeld für seinen Vater, der jahrelang nur durch künstliche Ernährung weiterlebte. Gericht fällt Entscheidung im Januar

Von Ekkehard Müller-Jentsch

Gibt es Schmerzensgeld für eine fehlerhafte Behandlung, die Leiden ohne Sinn künstlich aufrecht erhält? Die Arzthaftungskammer am Landgericht München I ist seit Montag mit dieser besonders heiklen Klage konfrontiert. Ein Sohn wirft dem früheren Hausarzt seines Vaters vor, den hochbetagten, schwerstkranken Mann über Jahre künstlich am Leben erhalten zu haben: Der Mediziner habe dem Vater so die Erlösung durch das natürliche Versterben verwehrt - der Schwerkranke musste so unnötig leiden. Dafür soll der Hausarzt nun Schmerzensgeld und Pflegekosten zahlen, fordert der Sohn. Geld wird es voraussichtlich nicht geben. Doch das Gericht will feststellen, dass Ärzte in solchen Situationen ihr Vorgehen immer wieder mit Betreuern und Angehörigen abstimmen müssen.

Das Leiden des Postbeamten Heinrich S. nahm 1996 seinen Anfang: Der damals 66-Jährige musste stationär wegen Demenz behandelt werden. Immer schneller schritt der körperliche Verfall voran: Inkontinenz, Depressionen und chronische Schmerzen plagten den Mann. Er lebte von seiner Ehefrau getrennt, zu einem seiner beiden Söhne hatte er zu diesem Zeitpunkt schon lange keinen Kontakt mehr, der andere (der heutige Kläger), lebt in den USA. Der Münchner war laut Medizinprotokoll "mutistisch", das ist dass so genannte "psychogene Schweigen". Der Mann musste auch regelmäßig auf richterliche Anordnung fixiert werden. Er verweigerte zudem jegliche Nahrungsaufnahme.

2006 beschreibt die Klinikdokumentation in nüchternen Stichpunkten eine schreckliche Lebenssituation: "Liegerollstuhl sitzend, keine adäquate Reaktion, Kontrakturen Arme, Beine, Hände in Pfötchenstellung, Arme angewinkelt, (...) Patient ist nicht ansprechbar, voll dement, Bronchitis, Fieber, Pneumonie, Aspirationspneumonie, antibiotische Behandlung, Sauerstoffflasche." Als Heinrich S. im Oktober 2011 starb, hatte sich sein Zustand noch um ein Vielfaches verschlechtert.

Der Sohn sagt heute, dass die lebens- und damit leidensverlängernde Behandlung seines Vaters zum Schluss nicht mehr ärztlich vertretbar war. Auch der vom Gericht bestellte Sachverständige stellt fest: "Grundsätzlich bestand bereits beim Legen der Sonde im Jahre 2006 kein Therapieziel mehr im eigentlichen Sinne. Es gab keinerlei begründete Hoffnung und Aussicht auf eine Besserung des Zustandes." Er sagt aber auch, dass die Einstellung jeglicher Nahrungs- und Flüssigkeitszufuhr ohne genaue Kenntnis des Patientenwillens schier unmöglich sei - eine Patientenverfügung habe es nicht gegeben.

Klägeranwalt Wolfgang Putz erklärt: "Eine Schadensersatzpflicht für eine nicht indizierte oder nicht gewollte künstliche Lebensverlängerung würde in Deutschland die gesamte Medizin und Pflege am Lebensende dramatisch verändern." Der Medizinrechtsexperte will in diesem dramatischen Fall eine höchstrichterliche Entscheidung herbeiführen.

Der Sohn hatte laut Putz zu Lebenszeiten des Vaters vergeblich zu erreichen versucht, dass die Behandlung mit der Magensonde beendet wird. Nun verlangt er 100 000 Euro Schmerzensgeld und rund 52 000 Euro Behandlungskosten.

Der Vorsitzende Richter Peter Lemmers kündigte schließlich eine Entscheidung an, die beiden Seiten gerecht werden soll. Natürlich dürfe ein Arzt die Versorgung eines schwerkranken Patienten in solch einer Situation nicht eigenmächtig abstellen. Aber er hätte nachdrücklich und intensiv das Gespräch mit dem Betreuer und den Angehörigen suchen müssen, sagte der Vorsitzende. "Als Arzt sieht er jeden Tag er das Elend." Deshalb müsse er nachdrücklich versuchen, den mutmaßlichen Patientenwillen zu ermitteln. Das Gericht stellte auch einen Vorwurf an den damaligen Betreuer in den Raum, sich nicht richtig um seinen Schützling gekümmert zu haben. Die 9. Zivilkammer appelliert an Ärzte, in solch einer Situation die Verantwortung an die Betreuer und Angehörigen zurückzugeben.

Das Gericht sprach am Montagnachmittag dem beklagten Arzt gegenüber von einer "unterlassenen therapeutischen Aufklärung". Allerdings müsste - um zu einer Haftung zu kommen - im Gegenzug der klagende Sohn schlüssig beweisen können, dass er unter diesen Umständen auf jeden Fall fürs "Abschalten" gestimmt hätte - und das dürfte ihm nach Meinung des Gerichts kaum möglich sein.

Lemmers sagte auch: "Vielleicht setzt nun eine Entwicklung ein, die in Zukunft zu besseren Ergebnissen führt." Das sei doch das tatsächliche Ziel des klagenden Sohnes und seines Anwalts und nicht irgendein Geldbetrag. Medizinanwalt Götz Tacke, der den Arzt vertritt, versteht die angekündigte Entscheidung des Gerichts auch als eindringliches Plädoyer für die Notwendigkeit von Patientenverfügungen. Das Urteil wird am 18. Januar verkündet.

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