Zwanghaftes Sammeln:Chaos

Zwanghaftes Sammeln: Die fein säuberlich gestapelten Gegenstände in der Straße zur Aumühle könnten auch eine Kunstinstallation sein. Für den Geschäftsführer eines Münchner Vereins, der sich um Kranke mit Messie-Syndrom kümmert, erfüllen die gesammelten Gegenstände mehrere Kompensationsfunktionen.

Die fein säuberlich gestapelten Gegenstände in der Straße zur Aumühle könnten auch eine Kunstinstallation sein. Für den Geschäftsführer eines Münchner Vereins, der sich um Kranke mit Messie-Syndrom kümmert, erfüllen die gesammelten Gegenstände mehrere Kompensationsfunktionen.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Vor einem Haus in Fürstenfeldbruck stapeln sich Bücher und Altpapier in Tüten. Das Gesundheitsamt spricht von einem Messie-Haus. Das Phänomen ist Ausdruck einer psychischen Krankheit

Von Christian Lamp, Fürstenfeldbruck

Wer in der letzten Zeit die Straße zur Aumühle in Fürstenfeldbruck entlang spazierte, dem bot sich ein seltsames Schauspiel. In gewisser Regelmäßigkeit fanden sich vor einem unscheinbaren Haus unter dem Tür- beziehungsweise Garagenvorsprung säuberlich gestapelte Tüten und Schachteln, die allem Anschein nach mit Papier gefüllt waren. Durch Tür und Scheibe zeichnet sich ab, dass das Haus offensichtlich auch innen bis unter die Decke mit Papier vollgestopft ist. Das meiste Papier ist gewissenhaft in Edeka-Tüten verstaut.

Was auf den ersten Blick wie eine abstrakte Kunstinstallation erscheint, ist allerdings Ausdruck einer Krankheit. Und ein Fall für die Öffentlichkeit. Dass die Papierstapel regelmäßig verschwinden, ist nicht dem Konzept eines Künstlers zu verdanken, sondern der Stadt. Sie "kümmern sich darum", lässt das Gesundheitsamt verlauten. Denn die "öffentliche Ordnung" sei mittlerweile gestört. Das Gesundheitsamt spricht von einem Messie-Haus, die Bewohner würden zwanghaft Papier und Zeitungen sammeln.

Ein Messie, das ist Chaos, Dreck und Unordnung. Messie ist gleich Müll. Das jedenfalls scheint das gesellschaftliche Stigma der Krankheit zu sein. Nachbarn des besagten Hauses winken nur resigniert bis peinlich berührt ab, wenn man sie darauf anspricht. Ist halt so, kann man wohl nichts machen, besser, man könnte - das lässt sich den Gesichtern entnehmen.

Das Messie-Syndrom ist eine psychische Krankheit. Sie hat Ursachen und Symptome. In der Literatur ist aufgrund der Stigmatisierung des Begriffs auch von einer "Desorganisationsstörung" die Rede. Sie ist zumindest teilweise therapierbar, wie Wedigo von Wedel, 56, Pädagoge und einer der Geschäftsführer von "H-Team e. V." bekräftigt. Das H-Team ist ein 1990 gegründeter gemeinnütziger Verein, der sich im Stadtgebiet München um Kranke mit Messie-Syndrom kümmert. In Fürstenfeldbruck könnten sie aufgrund begrenzter Kapazitäten nicht helfen, so von Wedel. Da verweist er auf sozialpsychiatrische Dienste wie den der Caritas.

Alexander Patij, 44, arbeitet dort mit Ursula Kreis-Schaffert, 50, zusammen. Beide kennen das Phänomen des Messies, müssen aber gestehen, dass sie da nur eine erste Anlaufstelle bieten könnten. Der geschilderte Fall ist ihnen unbekannt. Ihre Hilfe muss man aber auch freiwillig suchen. In ihrer Arbeit trete das Messie-Syndrom eher als Begleiterscheinung anderer Krankheiten auf. Patij spricht im Bezug auf den Landkreis von einer echten "Versorgungslücke, was diese Menschen betrifft". In Gauting gebe es noch ein regelmäßiges "Messie-Frühstück". Aber viel näher als München ist das auch nicht.

Diese Versorgungslücke liegt wohl auch daran, dass das Messie-Syndrom immer noch keine anerkannte Krankheit ist, wie Wedigo von Wedel berichtet. Die Krankenkassen zahlten keine Therapie und spezialisierte Therapeuten finde man auch kaum. "Überhaupt zu helfen", meint er, ist "nach wie vor extrem schwer". Immerhin ist seit 2013 das "Horten" als spezifische Erkrankung im DSM-5, also der fünften Auflage des "Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders" (englisch für Diagnostisches und statistisches Handbuch psychischer Störungen) aufgeführt.

Dennoch moniert von Wedel weiterhin das Fehlen "solider Forschung" zum Thema. Das Messie-Syndrom sei nicht unbedingt mit dem Horten gleichzusetzen. Er sieht es verknüpft mit drei Grunderkrankungen: Depression, Angst- beziehungsweise Zwangsstörungen und Suchtstrukturen. Messie heißt für ihn "Chaos im Kopf". In der Seele herrscht ein ähnliches Durcheinander wie in den Wohnungen, sagt der 56-Jährige.

Die gesammelten Gegenstände erfüllen gleich mehrere Kompensationsfunktionen. Allen gemein ist der Versuch, durch sie Stabilität zu gewinnen. Wichtig ist von Wedel, das Messie-Syndrom von der Vermüllung zu unterscheiden. Für den Messie sind die angesammelten Gegenstände kein Müll, sondern mit Zwecken und Werten aufgeladene Spiegel seiner selbst. Sie gehorchen einer spezifischen Ordnung.

Personen mit Vermüllungssyndrom "sammeln für den Bauch, Messies für den Kopf", meint Wedigo von Wedel. Sie sammelten Pläne, die Gegenstände sind der materielle Ausdruck davon. Durch die Verknüpfung mit traumatischen Erlebnissen in der Vergangenheit wären die Gegenstände zur Abwehr von Angst angesammelt. Sie bedeuten eine Sehnsucht nach Beziehungen, verlorenes Vertrauen, verlorenes Selbstwertgefühl. Was nicht mehr von Menschen erwartet wird, wird in Dinge verlagert. Aber die werden zur Quelle neuer Ängste. Das ist der Kern der Krankheit.

Das Sammeln ist oftmals mit Scham behaftet, meint von Wedel. Die Kranken wüssten, dass es untypisch ist, nicht normal. Sie lassen keine Freunde oder Familienmitglieder mehr zu sich nach Hause, es droht die Gefahr sozialer Isolation. Hinzu kommt die Sorge um den Verlust der eigenen Wohnung. Mehr Angst allerdings würde der Gedanke an das Wegwerfen der Gegenstände verursachen. Da sie den Wert der Person spiegeln, werden sie zu deren Extension. Wirft man die angesammelten Dinge des Messies weg, wirft man Teile von ihm weg. Es resultiert eine Situation permanenter depressiver Überforderung.

Aus dieser Zwangssituation führen in der Regel zwei Wege. "Ich bin der Meinung, dass es therapierbar wäre", sagt von Wedel. Zunächst einmal steht die Bekämpfung der Symptomatik im Vordergrund. Da einfaches Räumen der Wohnung nichts hilft, brauche es eine dauerhafte "Arbeitsbeziehung". Wie man sieht, stapeln die Tüten mit Papier sich jedesmal aufs Neue, das Gesundheitsamt verweist auf "Zwischenschritte", die ergebnislos unternommen wurden. Durch "Wohntraining" sei es möglich, die Wohnung in einen Zustand zu bringen, "wo der Rechtsfrieden wieder herrscht". Dazu muss die emotionale Bindung an und die Bedeutung der Gegenstände so weit gelöst werden, dass ein Wegwerfen möglich wird, von dem sich der Messie nicht mehr direkt betroffen fühlt.

Der juristische ist der andere Weg. Neben dem Zivilrecht, wenn Messies beispielsweise das Mietverhältnis nicht mehr erfüllen, können sie durch gesundheitliche Gefahren, gefährdete Statik oder aus Brandschutzgründen belangt werden. Bei Vermüllung drohen beispielsweise Ratten. Von Wedel bezeichnet es als eher selten, dass damit gegen Messies erfolgreich vorgegangen würde. Das Häufigste sei das Zivilrecht. Aber dann ist der Messie obdachlos und nicht gesund. Damit sei niemandem geholfen, meint er.

Der Fürstenfeldbrucker Fall geht den zweiten Weg. Für das Gesundheitsamt ist es offensichtlich, "dass der Bewohner es nicht selber hinkriegt", Ordnung zu halten. Dass das alles nur die allerletzte Option ist, betont das Amt selbst. Es sei ihnen bekannt, dass ein rechtlicher Betreuer eingesetzt sei, mit dem man sich "in Kürze" treffen würde, um die Situation zu klären. "Das ist ja kein Zustand", "entscheidend ist ja, was unternommen wird", heißt es noch ergänzend.

Auch die Polizei kennt den Fall, will aber ebenfalls aufgrund laufender Ermittlungen keine genauere Stellungnahme geben. Das Messie-Syndrom "kommt gelegentlich vor" heißt es, aber Zahlen gebe es keine. Es ist nicht strafrechtlich relevant, deshalb erfassen weder Gesundheitsamt noch Polizei bekannte Fälle. Die Polizei betont noch, dass Messies bei ihnen vor allem durch Ordnungswidrigkeiten wie Beleidigungen oder Ruhestörungen auffielen. Davon gebe es allerdings schon immer wieder welche. Die Messies gehörten "häufig zu den Randgruppen der Gesellschaft".

Zur Therapie zwingen kann man Messies nicht, in die Klinik einweisen auch nicht. Einschränkungen der persönlichen Freiheit seien nur bei akuter Gesundheitsgefährdung möglich, bestätigt Alexander Patij von der Caritas. Wenn, wie beim Haus nahe der Aumühle, keine unmittelbare gesundheitliche, statische oder brandschutzrelevante Gefahr gegeben ist, dann sind den Behörden weitestgehend die Hände gebunden. So bleiben nur die laut Stellungnahmen in die Wege geleiteten juristischen Schritte, die mit dem Wohnverhältnis argumentieren.

Nähert man sich derweil der von innen verbauten Türe, sieht man einen Flyer mit dem in bunten Lettern gesetzten Text: "Man muss die Schuld auch mal bei Anderen suchen".

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