Zustand der Grund- und Mittelschulen:"Man hat einfach nur den Namen ausgetauscht"

Christian Franke ist neuer Vorsitzender der Lehrer im Landkreis. Im SZ-Gespräch ziehen er und seine Vorgängerin Inge Heining eine Bilanz zur Einführung der Mittelschule, diskutieren über den Lehrermangel und die Integration von jungen Flüchtlingen

Interview von Stefan Salger, Fürstenfeldbruck

Christian Franke hat Inge Heining an der Spitze der Kreisvereinigung des Bayerischen Lehrerinnen- und Lehrer-Verbands (BLLV) abgelöst. Dabei hat der Olchinger ein Problem "geerbt": An den Grund- und Mittelschulen herrscht Lehrermangel. Beim Blick zurück sieht Franke durchaus auch Ermutigendes - wie die Durchlässigkeit des Schulsystems und Modellprojekte im Landkreis.

SZ: Der Wechsel an der BLLV-Spitze fällt in eine Zeit, in der die Schulen vermehrt über Unterrichtsausfälle und den Mangel an Personal klagen.

Inge Heining: Die Anforderungen an die Schule sind insgesamt auch höher geworden, man denke nur an Ganztagsunterricht, Inklusion oder die Integration von Flüchtlingen in Grund- und Mittelschulen.

Christian Franke: Gerade die Integration der Asylbewerber stellt die Schulen vor große Probleme und ist schwer zu stemmen.

Das Kultusministerium hat jüngst doch wieder mehr Personal versprochen. Sind das nur Lippenbekenntnisse?

Franke: Fakt ist, dass es derzeit keine freien Grund- und Mittelschullehrer auf dem Arbeitsmarkt gibt.

Heining: Es bleiben noch Gymnasial- oder Realschullehrer, die keine Anstellung bekommen haben. Pensionisten werden für Fördermaßnahmen eingestellt.

So einfach ist der Wechsel eines Gymnasial- oder Realschullehrers an die Mittelschule aber auch nicht.

Franke: Immerhin gibt es zirka 90 Stellen in Oberbayern, für die Gymnasial- und Realschullehrer in zwei Jahren nachqualifiziert werden und dann ihr Staatsexamen ablegen. Alle anderen Lehrkräfte, die in weiterführenden Schulen nicht unterkommen, können bei uns Angestelltenverträge über die Regierung bekommen. Die werden dann zwar ganz normal als Lehrkräfte eingesetzt, aber sie werden eben nicht verbeamtet. Der Nachteil ist, dass sie nur zeitlich befristet bis Schuljahresende angestellt werden.

Wie ist zurzeit die Personalsituation an den Schulen im Landkreis?

Heinig: Auf Kante genäht. Die Grundversorgung ist gewährleistet, aber bei Erkrankungen wird es richtig schwierig. Mammendorf ist da ein Beispiel.

Franke: Das kann sich dann äußern in der sogenannten Doppelführung an Mittelschulen. Eine Lehrkraft hat gleichzeitig zwei Klassen. Bildlich gesprochen stehen zwei Klassentüren offen, und die Lehrkraft pendelt.

Einschulung von Flüchtlingen in Vorbereitungsklassen

Es gibt einige Projekte im Landkreis, die gut laufen, etwa die FleGs-Klassen in Esting und die Vorbereitungsklassen in Maisach.

(Foto: Günther Reger/DPA)

Heining: In der Grundschule ist das allerdings fast nicht möglich, dort werden Klassen aufgeteilt oder es müssen verfügbare Lehrer den Unterricht übernehmen. Ziel ist es, den Unterricht fortzuführen. Aber wenn jedes Mal ein anderer Lehrer kommt, ist das für die Kinder und Jugendlichen auch nicht gerade gut.

Warum gibt es so wenig Lehrer?

Heining: Jahrelang wurden zu wenig eingestellt. Man hat sich den Luxus erlaubt, fertig ausgebildete Lehrkräfte in die Arbeitslosigkeit zu schicken.

Und die kommen nun auch nicht mehr zurück?

Heining: Wer in die Industrie gewechselt ist, dort Fuß gefasst hat und vergleichsweise sehr gut verdient, der dürfte für den Schuldienst verloren sein . . .

Franke: . . . auch wenn es in der Industrie wiederum nicht diese Arbeitsplatzsicherheit gibt. Ich denke, dass das Kontingent der nachzuqualifizierenden Realschul- oder Gymnasiallehrer von 90 mittelfristig aufgestockt wird. Wir haben eine hohe Fluktuation im Ballungsraum München. Hier gibt es viele Kinder und damit einen hohen Lehrerbedarf, während es in Niederbayern, Franken und Schwaben eher weniger Kinder und einen Lehrkräfteüberschuss gibt. Junge Lehrer werden deshalb nach Oberbayern versetzt, die dann aber wieder zurückwollen. Da gibt es eine große Unzufriedenheit.

Wie kann eine Schule gegensteuern?

Heining: Wenn man ehrlich ist, eigentlich gar nicht. Ein gutes Arbeitsklima wird wertgeschätzt, aber wer fährt am Wochenende deshalb 300 Kilometer und gibt die sozialen Bindungen auf?

Franke: Der daraus resultierende Personalmangel geht vor allem zulasten des außerordentlichen besonderen Unterrichts (Wahlfächer). Die Stunden, für die man eine schwierige Klasse schon mal teilen konnte, wurden stark gekürzt.

Wird die ganze Mittelschulreform da nicht ad absurdum geführt? Wie sieht da nach fünf Jahren die Bilanz aus?

Franke: Ganz lapidar gesprochen: Man hat einfach nur den Namen ausgetauscht. Aus der Hauptschule wurde die Mittelschule. Aber am Lehrplan wurde nichts geändert, der stammt immer noch aus dem Jahr 2004. An den Grundschulen wurde in den letzten Schuljahren der neue Lehrplan eingeführt und wächst quasi in die höheren Jahrgänge mit.

Eine echte Vertrauensperson

Christian Franke wurde 1964 in München geboren. Der verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder wohnt in Olching nur ein paar Häuser entfernt von seiner Vorgängerin Inge Heining, die dem BLLV seit 25 Jahren angehört, 2007 den Kreisvorsitz übernommen hat und sich weiterhin um die Betreuung der pensionierten Kollegen und um die Organisation von Ausflügen kümmern wird. Franke war zwölf Jahre Zeitsoldat bei der Bundeswehr und dort acht Jahre Vertrauensperson der Soldaten. Als Quereinsteiger wechselte er ins Lehramt und engagierte sich in der Personalvertretung und im BLLV. 2007 wurde er Vertrauensperson der Schwerbehinderten im Schulamtsbezirk Fürstenfeldbruck. Er ist zudem stellvertretende Bezirksvertrauensperson bei der Regierung von Oberbayern sowie Beisitzer im Bezirksvorstand des BLLV Oberbayern. Franke ist zudem stellvertretender Vorsitzender des Personalrats, der nach dem Ausscheiden Heinings nun von Anna-Maria Neider von der Grundschule Aufkirchen geleitet wird. Der passionierte Motorradfahrer gehört seit mehr als 35 Jahren der Wasserwacht Olching an, als Vorstandsmitglied und Einsatzleiter der Schnelleinsatzgruppe Wasserrettung. SLG

Heining: Der betont nun mehr Kompetenzen statt Einzelfaktenwissen.

Das ist doch eine Forderung des BLLV.

Heining: Ja, das schon. Die Einstellung zum Lernen hat sich etwas verändert, aber die Testflut der letzten Jahre ist geblieben.

Franke: Der Grundgedanke, mehr Richtung Kompetenzen zu gehen, ist schon richtig. Aber wenn es dann um die Benotung geht, dann werden doch wieder Punkte zusammengezählt. Die Kompetenz kann man da nicht so einordnen.

Wie ist es mit der Durchlässigkeit im Schulsystem und mit dem Modell der Gesamtschule?

Heining: Die ist recht groß.

Franke: Ja, das kann ich aus persönlicher Erfahrung bestätigen. Ich habe in Puchheim meinen Quali gemacht und dann Ausbildungen zum Büromaschinenmechaniker und Radio- und Fernsehtechniker absolviert. Es folgte die Meisterprüfung in Elektrotechnik, der Mittlere Abschluss, die Fachhochschulreife und das Lehramtsstudium als Seiteneinsteiger. Erst 2003 habe ich dann als Lehrer gearbeitet. Das System ist also schon durchlässig. Es gibt eben den kürzesten Weg und den längeren Weg.

Ein kleines Wünsch-dir-was: Was müsste sich im Schulsystem ändern?

Franke: Längeres gemeinsames Lernen über die vierte Jahrgangsstufe hinaus wäre wünschenswert. Ich fand es gut, dass man früher erst nach der fünften oder sechsten Klasse wechseln konnte. Dann wird nicht zu früh in eine Richtung festgelegt und auch die Schwächeren haben etwas davon, weil die Stärkeren das mittragen. Kinder lernen nicht ausschließlich von der Lehrkraft, sondern auch im Miteinander mit Gleichaltrigen.

Was ist mit dem Durchfallen. Ist man heute in zwei Fächern schlecht, muss man auch in allen anderen Fächern wiederholen. Könnten da skandinavische Länder ein Vorbild sein?

Heining: Es wäre wünschenswert, mit besserer, individueller Förderung frühzeitig gegenzusteuern. Aber dafür bräuchte es eine zweite Lehrkraft oder anderes Ergänzungspersonal.

Franke: Das ist sicher nicht bei jeder Stunde möglich und nötig, aber zwei oder drei Stunden am Tag wären schon gut.

Heining Franke

Inge Heining und ihr Nachfolger Christian Franke haben einiges am Zustand der Grund- und Mittelschulen zu kritisieren.

(Foto: Günther Reger/DPA)

Heining: Mit Hilfe zusätzlicher Förderlehrer könnte man das Durchfallen vielleicht sogar ganz vermeiden.

Franke: Schüler in skandinavischen Ländern, die nur in ein oder zwei Fächern schlechte Noten haben, können dort auch nur in einem oder zwei Fächern wiederholen, in den anderen Fächern aber weitermachen. Das geht bei uns nicht, weil wir nicht so individuell auf die Kinder eingehen können. Auch die Gesamtschule hat sich nicht durchgesetzt, obwohl sie viele Vorteile hat, weil man alle Schüler in einem Gebäude hat. Jeder hat irgendwo seine Stärke. Da kann auch ein Mittelschüler in einem Fach zügig mitlernen mit Gymnasiasten. Das würde dann aber eine Komplettreform erfordern. Grundsätzlich ist das Wiederholen in der Grundschule fast kein Thema und in der Mittelschule auch sehr selten. Ist ein Schüler dort in zwei Fächern schlecht, kann ihm aus pädagogischen Gründen trotzdem ein Fortrücken erlaubt werden. Nicht immer erweist man Schülern damit aber einen Gefallen. Hat beispielsweise ein Sechstklässler schon große Defizite, dann werden diese in den nächsten Klassen oft immer größer. Wir haben neun Pflichtjahre an Grund-und Mittelschule plus drei Jahre Berufsschule. Selbst wenn man mal ein oder zwei Jahre wiederholt, kann das einem Kind auch guttun, mag der Schock anfangs auch groß sein.

Zurück zum Wunschkonzert: Wo gibt es weitere Defizite?

Heining: Wir bräuchten dringend mehr Jugendsozialarbeiter, Lehrkräfte im sonderpädagogischen Dienst an Regelschulen und Förderlehrer zur Unterstützung von Lehrkräften. Das ist besonders wichtig, um Defiziten entgegenwirken zu können.

Franke: Bislang gibt es lediglich etwa 15 Förderlehrkräfte bei 42 Grund- und Mittelschulen im Landkreis.

Heining: Und auch für den Ganztagsbetrieb fehlt es an Personal.

Franke: Man muss sich nur mal die Belastung der Schulleitungen anschauen. Abhängig von der Schulgröße haben Schulleiter eine oft beträchtliche Unterrichtsverpflichtung. An kleinen Schulen werden beispielsweise lediglich fünf bis sieben Verwaltungsstunden angerechnet, dann bleiben noch 20 oder mehr Unterrichtsstunden. Das Büro mancher Schulen im Landkreis ist an zwei Wochentagen verwaist. Das ist ein Unding.

Heining: Bei der Reduzierung der Klassenstärken gibt es ebenfalls noch Handlungsbedarf. In der Grundschule liegt die Teilungsgrenze bereits bei 28, bei der Mittelschule immer noch bei 33.

Welche Modellprojekte gibt es zurzeit im Landkreis?

Heining: In Esting gibt es die Flegs-Klassen. Da wird den Kindern die Möglichkeit gegeben, die ersten beiden Klassen je nach Bedarf in ein bis drei Jahren zu absolvieren.

Franke: Das ist eine gute Sache. Außerdem gibt es Vorbereitungsklassen in Maisach und Germering. Wer nicht den M-Zug von der M 7 bis zur M 9 besucht, der kann es mit einem Quali in zwei Jahren über V 1 und V 2 zur Mittleren Reife schaffen.

Lehrervertretung

Der Personalrat entspricht in etwa einem Betriebsrat, der Kontrollfunktion hat und sich darum kümmert, dass es gerecht zugeht. Er vertritt die Lehrer gegenüber dem Schulamt und nimmt beispielsweise zu geplanten Versetzungen Stellung. Der Bayerische Lehrerinnen- und Lehrer-Verband (BLLV), in dem im Unterschied zum Philologenverband vor allem Grund- und Mittelschullehrer vertreten sind, zählt im Landkreis gegenwärtig 1088 Mitglieder. Er ist mit einer Gewerkschaft vergleichbar und vertritt die Interessen der Verbandsmitglieder. SLG

Die vielen Übergangsklassen sind zwar keine echten Modellprojekte, aber auch sie bringen ganz neue Erfahrungen, in diesem Fall mit nicht deutsch sprechenden Kindern.

Heining: Manchmal, gelingt es auch gut, sie gleich in Regelklassen zu integrieren . . .

Franke: . . . was aber nur funktioniert, wenn bereits gewisse Deutschkenntnisse vorhanden sind. Ist das so, dann lernen Kinder erstaunlich gut von anderen Kindern.

Heining: In den unteren Jahrgangsstufen funktioniert das gut in der Regelklasse. Ich hatte mal ein Mädchen aus dem ehemaligen Jugoslawien, das hat vor Ostern bereits die ersten Nachschriften mitgemacht. Heute ist sie erwachsen, spricht fließend Deutsch und arbeitet im Landratsamt.

Franke: An Grund- und Mittelschulen gibt es Übergangsklassen, an der Berufsschule Klassen für berufsschulpflichtige Flüchtlinge. Einen direkten Zugang zu Realschule oder Gymnasium gibt es aber leider noch nicht.

Heining: Umso wichtiger, dass Sprachhelfer eingesetzt werden. Unsere Pensionisten leisten da sehr gute Arbeit.

Franke: Mit ihrer Hilfe können die bis zu 20 Kinder einer Übergangsklasse in Kleingruppen aufgeteilt werden, in denen Lesen und Sprechen geübt wird.

Ist es für die Schulen ein Problem, dass Flüchtlingskinder bereits nach drei Monaten schulpflichtig sind?

Heining: Es ist wichtig, Kinder schnell in die Schule aufzunehmen. Problematisch ist oft, dass man am Freitag noch nicht weiß, wie viele Kinder am Montag vor der Tür stehen. Es ist vor allem dann schwierig, wenn die Eltern gar kein Deutsch sprechen. Und wie erreicht man als Lehrkraft Eltern von einem Migrationskind, die in einer Flüchtlingsunterkunft leben?

Frau Heining, wenn Sie heute vor der Wahl stünden, würden Sie sich nochmal für den Lehrerberuf entscheiden?

Heining: Ja, schon. Der Umgang mit den Kindern ist erfüllend. Und die Teilzeitmöglichkeiten sind sehr familienverträglich.

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