SZ-Adventskalender:Und plötzlich ist alles anders

Ein behindertes Kind hat ganz eigene Ansprüche. Eltern müssen das erst lernen, der Verein Buss-Kinder hilft ihnen dabei.

Stefan Salger

- Natürlich war es ein Schock. Natürlich wurde die große Freude und der Stolz über das eigene, neugeborene Kind von dieser Botschaft überschattet. Wie gravierend die körperlichen und geistigen Behinderungen ihres Sohnes sind, steht nach vier Monaten fest. Abends ruft der Arzt an und teilt die Ergebnisse der gründlichen Untersuchung mit. "Plötzlich war alles anders. Man kann es anfangs ja gar nicht fassen", sagt Petra Schäfer (alle Namen geändert). Tim ist heute zehn Jahre alt und besucht jeden Tag bis zum frühen Nachmittag eine Betreuungseinrichtung der Helfenden Hände in Neuaubing. Er sitzt in einem Spezialrollstuhl, ist blind und kann nicht sprechen. Es ist, "als würde das erste Lebensjahr nicht vorbeigehen", sagt seine Mutter. Und doch: Die Schäfers lieben ihr zweites Kind, das wird schnell klar. Tim wird umsorgt. Er ist und bleibt Teil dieser Familie. Einer Familie, die ihr Leben freilich umstellen muss. Seit zehn Jahren dreht sich Tag und Nacht fast alles um Tim.

Verein BUSS-Kinder

Marion Getz (rechts) und Christine Stoppel-Schulze gehören dem Vorstand an (hier in den Vereinsräumen an der Planegger Straße in Germering).

(Foto: Günther Reger)

Die Schäfers wohnen seit einem Jahr in einem kleinen Haus in Germering. Eine silberfarbene Rampe, die zur Tür führt, deutet schon darauf hin, dass hier jemand wohnt, der nicht ins Raster der "normalen" Gesellschaft passt. "Behindert" - das kann ein böser Begriff sein. Und Tims einige Jahre älterer Bruder Tobias hatte manchmal schon daran zu beißen, wenn Mitschüler mal wieder eine flapsige Bemerkung fallen ließen. Aber auch Tobias möchte seinen Bruder nicht missen.

Es ist gar nicht so, dass die Schäfers mit der "normalen Gesellschaft" hadern. Nachbarn, Freunde, Lehrer, Vertreter der Stadt - alle nett und hilfsbereit. Der Wille zur Integration - oder zur noch weitergehenden Inklusion - ist schon da. Und doch sind die Schäfers dankbar für eine Hilfe, die ihnen auch viele Freunde oder Nachbarn gar nicht leisten können. Es ist der Austausch mit ebenso Betroffenen, mit Menschen, die all die Tiefen, aber eben auch die Höhen im Umgang mit Kindern mit Handicap kennen. Die ganz praktische Tipps geben können und Möglichkeiten haben, die mit Geld gar nicht aufzuwiegen sind: Diese Möglichkeiten nennen sich Mütterseminar, Väterseminar, Geschwisterseminar, Familienseminar oder Spielgruppe. Über ihre Schwägerin lernt Petra Schäfer den Germeringer Verein "Familienkreis behinderter und schwerkranker, sterbender Kinder", kurz "Buss-Kinder", kennen, der fast 50 Familien mit bis zu 19 Jahre alten behinderten Kindern betreut - damals wohnte die Familie noch im nahen Aubing. Erstmals kommt man an dem kleinen Infostand am Rande des Germeringer Stadtfests ins Gespräch. Und schnell stellt sich heraus, dass die Chemie stimmt. Anfangs telefoniert Petra Schäfer viel mit Marion Getz, der Vorsitzenden der Buss-Kinder, die selbst ein behindertes Kind hat. "Bei uns passt jedes Kind rein", sagt die, "egal wie schwer die Behinderung ist". Für die Schäfers ein Glücksfall: "Man steht ja erst einmal mit so einer Situation da, man hat keine Erfahrung und weiß erst einmal gar nicht, wo man Informationen herbekommt."

Es folgen ein fünftägiges Familienseminar in Kloster Kostenz, bei dem die Kinder betreut und die Eltern dadurch einmal mehr als nur ein paar Stunden richtig entlastet werden. Es folgt ein Mütterseminar mit einer sehr einfühlsamen Psychologin, bei dem Petra Schäfer wieder "den Akku aufladen kann". Es folgt ein fast schon abenteuerliches Geschwister-Wochenendseminar in Blockhütten bei Königsdorf, bei dem Tobias erkennt, dass viele Gleichaltrigen in der gleichen Situation sind wie er. Und immer wieder organisiert der Buss-Kinder-Verein Vorträge über Gott und die Welt, über Themen, die mit Behinderung zu tun haben oder auch nicht, wenn es etwa mal um Kräuter geht. Ein gemeinsamer Besuch im Tierpark - toll! Kamelreiten, das wäre noch schön. Petra Schäfer weiß, wie sehr Tim vom Kontakt mit Tieren profitiert. Seit er an einer Delfintherapie in der Türkei teilgenommen hat, trinkt Tim selbständig. Es ist einer dieser kleinen Fortschritte, die so wertvoll sind.

Die finanzielle Lücke, die sich durch Seminare, Vorträge und Ausflüge auftut, schließt der Verein mit Hilfe von Spenden. Die Stadt stellt zwar den Raum an der Planegger Straße zur Verfügung, ansonsten muss der Verein aber ohne öffentliche Fördermittel auskommen.

Neben den Buss-Kindern gibt es weitere Vereine und Organisationen im Landkreis, die sich um Familien mit behinderten Kindern kümmern. So etwa der Verein "Kreis Eltern behinderter Kinder" in Olching sowie die Caritas-Kontaktstelle für Menschen mit Behinderung in Fürstenfeldbruck, die den Eltern unter anderem mit dem Familienentlastenden Dienst Freiräume schaffen will.

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