SZ-Adventskalender:Schicksalsschläge seit der Kindheit

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Marhild S. hat ihre Mutter, ihren Mann und ihren Bruder bis in den Tod gepflegt. Jetzt als Rentnerin bleibt ihr kaum etwas zum Leben. Sie müsste schon längst zum Arzt und würde gerne einmal einen Ausflug an den Tegernsee machen. Doch das Geld reicht dafür nicht

Von Julia Bergmann, Olching

Hunger. Das ist für Marhild S. die prägendste Erinnerung, wenn sie über ihre Kindheit im Münchner Stadtteil Giesing spricht. Und wenn sie erzählt, weiß man sofort, dass es nie einfach für die heute 75 Jahre alte Frau gewesen sein muss. Hunger hat sie, trotz jahrelanger harter Arbeit, heute wieder. Von ihrer Rente von 900 Euro bleibt ihr nach Abzug der 500 Euro Miete, den Stromkosten, Rundfunkgebühren und sonstiger laufenden Kosten nicht mehr viel Geld zum Leben. Beim Essen muss sie sparen. Es gibt fast jeden Tag Gemüse aus der Konservendose und ein paar Kartoffeln. Für mehr reicht es nicht.

Und schlimmer noch als die ewige Geldnot ist das Alleinsein. Wie gerne würde Marhild S. den einen Menschen besuchen, der ihr nach einem Leben voller Schicksalsschläge noch geblieben ist: den besten Freund ihres Ehemannes. Leisten kann sie sich die Fahrtkosten nach Marienstein am Tegernsee nicht, und der Freund selbst kann aus gesundheitlichen Gründen nicht mehr Autofahren. Kontakt halten beide über das Telefon. Das letzte Treffen ist 13 Jahre her. "Wenn das klappen würde, dass ich ihn noch einmal sehe, ich wäre so glücklich", sagt sie. Um den Besuch zu ermöglichen, möchte der SZ-Adventskalender Marhild S. unterstützen. In dieser Woche sammelt der Adventskalender für gute Werke der Süddeutschen Zeitung für Rentner in Not.

Auch gesundheitlich ist die Rentnerin nach mehreren Darmoperationen eingeschränkt, das Laufen fällt ihr immer schwerer, eigentlich weiß sie, dass sie eine Wirbelsäulen-OP bräuchte. Auf einem Auge sieht sie kaum noch und dann ist da noch die lockere Teilzahnprothese, die gerichtet werden müsste. "Zum Arzt gegangen bin ich schon lange nicht mehr", sagt sie. Sie könne sich ja ausmalen, dass sie für die Behandlung tief in die Tasche greifen müsste. Die Krankenkasse übernimmt die Kosten nicht.

Auch hier möchte der Adventskalender helfen. Die lockere Prothese soll wieder fest sitzen. Trotz aller Widrigkeiten, den Lebensmut will sich Marhild S. nicht nehmen lassen. "Es könnte alles viel schlimmer sein", findet die Rentnerin. "Man lebt und ist zufrieden."

Marhild S. sitzt in ihrem Sessel, hinter ihr steht das ordentlich gemachte Bett, in einer Zimmerecke schmücken liebevoll arrangierte Seidenblumen den Raum. Viel Platz gibt es nicht in ihrer Einzimmerwohnung und nach Luxus sucht man vergeblich. Aber die Dinge, die den Raum füllen, werden gepflegt. "Der Stolz ist geblieben", sagt Marhild S. mit einem Lächeln.

"Dass ich einmal ganz allein auf dieser Welt bin, hätte ich nicht gedacht", sagt sie. Sechs Kinder sind sie gewesen. Sechs Kinder, Mutter und Vater in einer Zweizimmerwohnung in Giesing. "Man hat sich sehr eingeschränkt", erzählt sie. Aber es ging. Bis der Vater 1947 bei einem Unfall ums Leben kam. Fortan war Marhilds Mutter die Ernährerin der Familie. "Meine Mama ist auf die Nacht noch putzen gegangen", erinnert sich Marhild. Sie hat alles getan um die Familie über Wasser zu halten und mehrere Jobs gleichzeitig angenommen. Dass das überhaupt funktioniert hat.

Heute, glaubt Marhild, wäre das nicht mehr so einfach möglich. "Der Zusammenhalt in der Nachbarschaft war damals noch besser." Abends hat eine Nachbarin auf die Kinder aufgepasst, wenn die Mutter zur Arbeit ging, man hat sich umeinander gekümmert.

Die Frau, die als Kind davon träumte, einmal Ärztin zu werden, besuchte nach ihrer Schulausbildung eine Haushaltungsschule. "Lernen hast ja nichts können", sagt sie. Die Zeiten waren andere. In den zierlichen Händen der alten Dame liegt ein kleines schwarz-weißes Foto. Marhild S. betrachtet das Bild und ein Lächeln umspielt ihre Mundwinkel. Darauf zu sehen ist eine junge, selbstbewusste Frau im Petticoat, Sonnenbrille auf der Nase, Lächeln auf den Lippen. "So hab ich damals ausgeschaut", sagt Marhild S., einen Anflug von Spitzbübigkeit in den Augen. "Es war trotz allem eine schöne Zeit", sagt sie.

Als das Foto aufgenommen wurde, ging es langsam bergauf für die junge Frau. Ihre Familie war bereits nach Olching gezogen, sie selbst hat eine gute Stellung gefunden und Anfang der Sechzigerjahre die Kantine im Justizpalast in München geführt. Nach dem Tagesjob hat sie zusätzliche Abendschichten in einem kleinen Olchinger Café geschoben, um als Kellnerin ein Zubrot für die Familie zu verdienen. "Da habe ich dann meinen Mann kennengelernt", erzählt Marhild S. Ob sie sich noch gut an den Tag erinnert? "Ja, ganz gut", ihre Stimme wird weich, die Worte klingen wie gehaucht. "Er war so schüchtern", sagt sie und kichert. Trotzdem kamen die beiden ins Gespräch.

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"Alle Tage ist er gekommen, dann hat er eines Abends gefragt, ob er mich nach Hause fahren darf", sagt sie und hebt den Finger, um zu unterstreichen, was als nächstes kommt: "Auf seinem Fahrrad." Gesagt, getan: Marhild saß vorne auf der Stange, ihren Regenschirm in der Hand, der wohl irgendwie zwischen die Speichen geraten sein muss. Der Sturz war unausweichlich. "Von dem Tag an waren wir zusammen", sagt sie und strahlt. Dass die Liebe groß war, muss sie nicht dazu sagen.

1962 wurde geheiratet. Marhild S. und ihr Mann haben ihr Leben lang gearbeitet und gespart. "Er wollte unbedingt irgendwann eine Eigentumswohnung kaufen", erzählt sie. Fast 20 000 Euro hatten sie schon zusammen, als der erste von einer ganzen Kette an Schicksalsschlägen sie traf. Das Ehepaar verlor ihren Sohn. Darüber zu sprechen, fällt der Frau viele Jahre später immer noch zu schwer. Sie will nicht weinen müssen, verschnauft kurz und erzählt dann weiter. "Danach starb mein Bruder an Nierenversagen. Das hat der Mama das Herz gebrochen." Marhilds Mutter wurde krank und Marhild war die einzige der Geschwister, die sie damals unterstützen konnte. Die Mutter hat sie lange Zeit gepflegt. Eine schwierige Zeit voller Operationen, Sorge und Schmerz. Eigentlich schon genug für ein ganzes Leben, aber nach dem Tod der Mutter verlor Marhild S. noch einen Bruder, dann eine ihrer Schwestern.

Kurz darauf wieder ein Schlag. Mit 55 Jahren wurde ihr Mann zum Dialyse-Patienten. "Da hatte ich noch eine Schwester in Amerika. Mein Mann hat damals zu mir gesagt, er will noch einmal rüber, um sie zu besuchen." Die Reise war schon geplant, da klagte Marhilds Mann ganz plötzlich über Zahnschmerzen. Kurz vor dem Abflug vereinbarten sie einen Termin bei der HNO-Ärztin. "Die Ärztin hat festgestellt, dass er Mandelkrebs hatte", erzählt Marhild. Ihr Mann hatte als Landschaftsgärtner gearbeitet. "Man hat damals beim Spritzen der Bäume keinen Mundschutz getragen", sagt Marhild S. Drei schwere Jahre brachen an. Alle ihre Möbel mussten aus dem Schlafzimmer weichen, um Platz zu machen für das Krankenbett, die Beatmungsmaschine, die vielen medizinischen Geräte. In ein Pflegeheim oder in eine Klinik wollte er nicht gehen, er wollte Zuhause sterben dürfen. "Natürlich hätten wir das machen können", sagt Marhild. "Aber wenn du so lange zusammen bist, bringst du das nicht über's Herz."

Nach drei Jahren Pflege ist ihr Mann gegangen. "Eines Tages hat er meine Hand genommen, er hat sie ganz fest gedrückt. Die andere hat er an sein Herz gelegt", erzählt sie. Er hatte Abschied genommen.

Genau zwei Jahre später kam der Anruf aus Amerika. Ihre Schwester war an Lungenversagen gestorben. "Sie hatte davor schon ein paar Unfälle. Ist immer gerade so davongekommen. Aber dieses Mal . . .", sagt sie. Marhild S. hält im Erzählen kurz inne, denkt nach. "Und dann mein letzter Bruder", fährt sie schließlich fort. "Zu ihm hab ich gesagt: Untersteh' dich, dass du auch noch vor mir gehst", sagt sie. Und er hat noch geantwortet: "Du hast es schon verdient, dass ich noch da bin für dich." Er war der einzige, der ihr bis dahin geblieben war, er war der letzte, der gegangen ist. "Der Mama hab ich, bevor sie gestorben ist, noch versprechen müssen, dass ich gut auf ihn aufpasse. Mei, er war der liadrigste von uns allen", sagt sie.

Zum Arzt gegangen ist er nie, bis die Schmerzen in seiner Brust und im Rücken immer schlimmer wurden. Da war es schon zu spät. "Er stand kurz vor einem Herzinfarkt, musste sofort operiert werden", erzählt Marhild. "Aber es war alles schon so verkalkt."

Marhild S. ist als einzige geblieben. Für sie war es eine Selbstverständlichkeit, dass sie all ihre Zeit, ihre Aufmerksamkeit, ihr Geld in die Pflege ihrer Liebsten und in die Bestattungskosten investierte. Nach all den Jahren, den Schicksalsschlägen war für sie selbst kaum etwas geblieben.

Und heute? "Es geht", sagt Marhild. Das Geld, es ist knapp. Hilfe vom Sozialamt möchte sie nicht in Anspruch nehmen. Der Stolz, der Gedanke, dass man es schon alleine schafft, dass man niemanden auf der Tasche liegen will, hält sie davon ab. Das hindere viele Menschen daran, sich zu melden, das weiß auch Sozialamtsleiter Dieter Müller. 1000 Rentner im Landkreis beziehen im Moment die Grundsicherung im Alter. Die Zahl derer, die sich nicht melden, dürfte weit höher liegen, vermutet er.

Dass Marhild S. neben den finanziellen Engpässen auch mit ihren Krankheiten zu kämpfen hat, erzählt sie nur am Rande. Wenn sie danach gefragt wird, beeilt sie sich, einen relativierenden Satz hinterherzuschieben. Sie ist Optimistin geblieben. Wie sie das schafft? Sie zögert, was soll man darauf schon antworten? "Das bin halt ich", sagt sie. Und nach einer langen Pause: "Das ist Überlebenstaktik. Es gibt auch Tage, an denen es nicht so gut geht." Am meisten, am allermeisten ärgert sie, dass das Geld, das sie für ihre eigene Bestattung zurückgelegt hat, weg ist. "Das Schlimmste ist, dass ich es nicht mehr reinarbeiten kann", sagt sie und ihre Stimme bricht. Bis vor zwei Jahren ist sie noch an verschiedenen Stellen putzen gegangen. Mit dem Rücken, dem schlechten Auge, ihrer Darmerkrankung geht das nicht mehr. Und das Geld wird immer knapper.

Gerade im Dezember seien viele Rechnungen fällig. "Der Dezember, das ist der schlimmste Monat", sagt sie. Dieses Jahr vielleicht noch ein wenig schlimmer als sonst. "Am 21. Dezember hätten wir goldene Hochzeit gefeiert."

© SZ vom 05.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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