SZ-Serie: Inklusion:In Schräglage

Rollstuhlfahrer sind zum Symbol für Behinderung und Barrierefreiheit schlechthin geworden. Und sie werden es wohl auch noch lange bleiben, weil überall in der Öffentlichkeit Schwellen und andere Schwierigkeiten die Fortbewegung behindern. Ein Selbstversuch in Maisach

Von Ariane Lindenbach, Maisach

Die Schultern schmerzen, die Daumen fühlen sich an, als würden am nächsten Tag von Blasen überzogen sein. Und dabei ist es doch "nur" eine ganz normale Strecke, die Max Schmid nahezu täglich auf seinem Rollstuhl zurücklegt. Einen guten Kilometer durch Maisach - dafür benötigt der 59 Jahre alte Schmid nicht lange. Die halbwegs sportliche Reporterin, die sich als "Gesunde" an diesem Tag in einen Rollstuhl setzt und erfahren will, wie das so ist als "Behinderte" ist, braucht eine Stunde dafür. Der Versuch soll zeigen, vor welchen Problemen Menschen mit sogenannten Mobilitätseinschränkungen stehen, wie sie sie zu lösen versuchen und wie sich die Perspektive ändert, wenn die Augenhöhe plötzlich einen halben Meter tiefer als im aufrechten Gang.

Max Schmid begleitet den Selbstversuch und hat einen Rollstuhl für die Reporterin besorgt. Er ist jemand, der sich kümmert. Vor sieben Jahren hat er den Behindertenbeirat in Maisach mitinitiiert, wurde in das Gremium gewählt und ist seither auch der Vorsitzende. "Man muss sich ja einsetzen für die Leute", sagt der 59-Jährige über seine Motivation für die ehrenamtliche Arbeit. Im Vergleich zu früher habe sich ohnehin schon sehr viel verbessert.

Rollstuhl

Manche Barrieren kann man kaum überwinden.

(Foto: Günther Reger)

Schmid ist seit einem Motorradunfall 1975 querschnittgelähmt. Zwei Drittel seines Lebens sitzt er im Rollstuhl. Aber er treibt Sport, er geht schwimmen und ist mit seinem wendigen Sportrollstuhl und seinem auf Handbedienung umgebauten Auto weitgehend autark.

Rollstuhlfahrer wie Schmid sind zum Symbol für Behinderung geworden. Unter einem Rollstuhlfahrer kann sich jeder etwas vorstellen. Fast jede Meldung im Fernsehen über Behinderung wird mit dem Foto eines Rollstuhlfahrers hinterlegt, in der Zeitung oder im Internet wird mit dem Rollstuhl-Logo illustriert. Und auch den Behindertenparkausweis ziert ein Rollstuhl Schließlich erkennt man sie als Behinderte in der Öffentlichkeit viel leichter als andere Menschen mit Handicap.

Max Schmid aber meint, dass nicht nur einer wie er so seine Schwierigkeiten hat, die viel frequentierten Strecke vom S-Bahnhof in Maisach bis zum Freibad mit dem Rollstuhl zurückzulegen. Oder einem Kinderwagen. Oder einem Rollator. Oder Krücken. Oder wenn man einfach nicht mehr so gut zu Fuß ist. "Jeder denkt bei Barrierefreiheit immer nur an die Rollstuhlfahrer, aber wenn man zum Beispiel mit einem Kinderwagen unterwegs ist, gibt es genau dieselben Probleme."

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Auch der Zugang zu Geschäften gestaltet sich schwierig.

(Foto: Günther Reger)

Und als ob Schmid diese Begegnung nun bestellt hätte, taucht eine Frau mit Kinderwagen dort auf, wo gerade die erste Problemstelle ausgemacht wurde: die Steigung vor dem Ärztehaus und dem Netto-Markt am S-Bahnhof in Maisach. Wenn es rein nach dem Gesetz ginge, dürften Steigungen einen Neigungswinkel von sechs Prozent nicht überschreiten. Das umzusetzen ist aber ein Problem. Denn viele Steigungen gibt es schon länger als dieses Gesetz. Sie sind steiler, der Raum drumherum ebenfalls umbaut. Will man nachträglich die Neigung ändern, ist mehr Platz notwendig. Den gibt es an dieser Stelle in Maisach nicht.

Wegen der starken Neigung jedenfalls benötigt die Reporterin bei der Abfahrt zum ersten Mal Hilfe. Sie lässt sich auf Schmids Empfehlung herunterschieben. Ohne Hilfe könne sie den Schwung nicht abbremsen, fürchtet er. Kurz darauf folgt die Mutter mit Kinderwagen. "Schau, wie die ziehen muss", deutet er auf die Frau. Die lehnt sich tatsächlich mit ihrem ganzen Oberkörper zurück, um ihren Kinderwagen abzubremsen. Schmid selbst rollt die Rampe übrigens lässig hinunter. Sein Trick: er lässt den Rollstuhl nach hinten kippen. "Das lernt man alles beim Rollstuhltraining", lacht Schmid. Das bekam er damals, als er kurz nach seinem Unfall auf Reha in Murnau war.

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Für die Reporterin tun sich an vielen Stellen in Maisach Barrieren auf.

(Foto: Günther Reger)

Die Route führt über den Zebrastreifen auf die andere Straßenseite und dann Richtung Ampel. Schon gleich nach der Rampe ein unfreiwilliger Stop: ein Metallgitter, das nur ein, zwei Zentimeter über den Asphalt hinausragt, bringt den Rollstuhl zum Stehen. Max Schmid empfiehlt, solche Hindernisse immer schräg anzufahren. Ein guter Tipp.

Der Zebrastreifen ist schon die nächste Herausforderung, da er in der Unterführung liegt und eine entsprechende Neigung aufweist. Der Rollstuhl reagiert sofort und will die ganze Zeit links nach unten rollen. Da hilft der Ungeübten nur, ausschließlich den linken Reifen anzuschieben. Dann noch schräg und mit Schwung den Bordstein hinauf. Auf dem Gehweg wird langsam klar, dass der Rollstuhl praktisch auf jede Bodenunebenheit reagiert und in die entsprechende Richtung rollt. Da hilft nur einseitiges Dagegensteuern.

Auf dem ungewohnt lang anmutenden Weg zum Schwimmbad zeigt sich, dass praktisch jeder Gehweg eine Neigung hat. Für Max Schmid ist das allerdings kein Problem. Er steuert seinen Rollstuhl auch durch Drehung seines Oberkörpers. Dennoch fände es der Vorsitzende des Behindertenbeirats gut, wenn der Zebrastreifen auf den ebenen Teil der Bahnhofstraße vorverlegt würde.

Der Gemeinderat will die Bahnhof- und die Aufkirchner Straße, insbesondere die Kreuzung, überplanen. Vielleicht kann der Behindertenbeirat anregen, im Zuge des Umbaus den Zebrastreifen zu verlegen und die Bordsteinkanten abzusenken.

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Max Schmid hat lernen müssen, wie er mit seinem Rollstuhl starkes Gefälle befahren kann.

(Foto: Günther Reger)

Schmid ist es ein großes Anliegen, dass alle Geschäfte mit Treppen vor dem Eingang eine Klingel an einer für Rollstuhlfahrer erreichbaren Stelle einbauen. So könnten sie sich bemerkbar machen. Mittels tragbarer Rampen oder durch einen Hintereingang könnten dann so manche Barrieren auf einfache Weise verringert werden. Derzeit erstellt der Behindertenbeirat in Maisach einen Behindertenwegweiser. Er soll Menschen mit eingeschränktem Gehvermögen einen Überblick darüber geben, wie gut zugänglich die einzelnen Geschäfte und öffentlichen Gebäude sind.

Inklusion bedeutet, es allen Menschen zu ermöglichen, im Rahmen ihrer Fähigkeiten am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu lassen. Das haben die Vereinten Nationen vor zehn Jahren als Konvention erlassen. Doch allzu viel passiert ist seither nicht. "Mit der Inklusion ist das eine schwierige Sache", sagt auch Schmid. Er berichtet von den regelmäßigen Treffen auf Kreisebene mit den anderen Behindertenbeiräten oder den "Inklusionstagen" unlängst in Germering. Die Beiräte machen sich keine Illusionen. "Die meisten sagen, das wird noch eine Zeitlang dauern, bis das umgesetzt wird." Vermutlich muss sich erst in den Köpfen etwas verändern, damit sich auch in der Umgebung etwas ändert.

Denn die Teilhabe von Menschen mit einer körperlichen Einschränkung scheitert oft schlicht daran, dass die Verantwortlichen bei der Planung gar nicht an deren Bedürfnisse denken. "Die Gemeinde, die hat gar nicht den Blick dafür", beklagt der 59-Jährige. Und stellt noch eine Forderung in den Raum: Alle Planer sollten einmal so eine Tour in einem Rollstuhl absolvieren. Dann würden sie vermutlich eher an die Bedürfnisse von Menschen mit einem Handicap denken.

Ein gutes Beispiel für falsche Planung ist in Schmids Augen das neue Kinderbecken im Maisacher Freibad. Es wurde erst im Vorjahr eingeweiht, vor zwei Jahren geplant. Also lange nach der UN-Konvention. Trotzdem ist das auf zwei Ebenen angelegte Kinderbecken nicht barrierefrei. Dabei wäre es so einfach gewesen, eine der beiden Treppen außerhalb des Beckens durch eine Rampe zu ersetzen. Daran wurde aber nicht gedacht. Nun müssen Eltern mit Kinderwagen, Rollstuhlfahrer oder Senioren mit Rollator außen über den Rasen, wenn sie die obere Ebene erreichen wollen.

"Das kann sich keiner vorstellen, wie schwierig das ist", sagt Max Schmid.Wer schon einmal mit einem Fahrrad eine asphaltierte Strecke gefahren ist und dann dieselbe Distanz durchs Gras, der hat bestimmt bemerkt, dass die Reifen auf der glatten Oberfläche viel besser rollen. Ein Rollstuhl verhält sich genauso.

Der Praxistest beweist es: Die kleine Steigung beim Kinderbecken, genommen durchs hügelige Gras, lässt die im Rollstuhlfahren Ungeübte endgültig an ihre körperlichen Grenzen stoßen. Am Tag danach macht sich die Schultermuskulatur durch leises Ziehen bemerkbar, und an der linken Hand ist eine Blase entstanden.

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