Volkstrauertag:Tränen der Erinnerung

Während des Zweiten Weltkriegs haben sich Paul und Maria Böing-Messing kennen und lieben gelernt. Nicht nur am Volkstrauertag erinnern sie sich an Angehörige, die sie in dieser Zeit verloren haben

Von Markus Mayr, Maisach

Als sie anfängt, von ihrem Bruder zu sprechen, werden ihre Augen feucht. Die von 87 Lebensjahren ohnehin geschwächte Stimme bebt etwas mehr. Eine erste Träne rinnt ihr die faltige Wange hinunter. Ihr Mann streicht mit zitternder Hand zärtlich das kleine Rinnsal weg. Er weiß, welche Erinnerung seiner Frau dieser Schmerz bereitet. Seine Augen werden im Lauf des Gesprächs auch noch tränennass zu glänzen beginnen. Leidvolle Erfahrungen ruhen in den Gedächtnissen der beiden. Die Weltkriegsjahre waren für den 88-Jährigen und seine Frau - wie für unzählige andere Menschen - Jahre der Ungewissheit, der Angst, des Verlusts.

Paul und Maria Böing-Messing, die damals noch nicht verheiratet waren, haben beide geliebte Menschen verloren. Enge Familienmitglieder fielen dem schrecklichen Krieg zum Opfer, den das nationalsozialistische deutsche Regime 1939 begann. Maria Böing-Messings einziger Bruder kehrte nie von der Front im Kaukasus zurück. Als 19-Jähriger sei er aus dem heimatlichen Duisburg-Hamborn zur Wehrmacht einberufen und gegen die Sowjets in den Krieg geschickt worden, erzählt sie. Nach acht Tagen an der Front wurde er als vermisst gemeldet. Bis heute ist er das. Ein einziges Foto bleibt ihr als Andenken an den Bruder. Es zeigt den Vermissten in Wehrmachtsuniform. Welches Schicksal den Bruder der Frau ereilte - ein schneller Tod, ein Siechtum in Gefangenschaft - das Ehepaar weiß es noch immer nicht. Die Deutsche Dienststelle, die Angehörige von Gefallenen der Wehrmacht informiert, hat bisher nichts über ihn herausfinden können. Seit 1952 hat sie den Auftrag, zu suchen. Vor einem halben Jahr habe er das letzte Mal bei der Stelle nachgefragt, sagt Paul Böing-Messing. Vergebens.

Böing-Messing

Der vermisste Bruder von Maria Böing-Messing.

(Foto: Günther Reger)

Er selbst hatte während des Krieges den Verlust seines Vaters zu beklagen. "Sein Tod hat meine Familie sehr geprägt", sagt er bemüht nüchtern, während er versucht, seine Tränen zu unterdrücken. In den letzten Kriegstagen verloren damals acht Kinder ihren Vater und die Mutter ihren Mann. Als im Frühjahr 1945 die Bomben der Alliierten auf sein Heimatdorf Rhede nördlich von Duisburg fielen, suchten Vater und Mutter mit ihrer jüngsten Tochter Schutz in einem Feldgraben. Vergebens. Ein zwölf Zentimeter langer Bombensplitter drang ihm in den Rücken und durchstach die Lunge. Er starb nach acht Tagen Todeskampf, als amerikanische Soldaten in das Dorf marschierten. Seine Schwester habe dem Vater die todesstarren Augen geschlossen, sagt er, als er sich an ihre Erzählung erinnert.

Ihren Kriegstoten gedenkt das Ehepaar Böing-Messing nicht nur am Volkstrauertag diesen Sonntag. Zu dieser Gelegenheit erinnerten sie sich aber "im Stillen, jeder für sich", sagt er, weil die Geschichten unabhängig voneinander passiert und sehr unterschiedlich seien. Die beiden wohnen inzwischen in einem Pflegeheim in Gernlinden. Ihre Apartments liegen direkt nebeneinander und sind über einen privaten Flur miteinander verbunden. Am 1. Oktober feierten sie eiserne Hochzeit, 65 Jahre Ehe. Kennenlernten sie sich in seinem Heimatort Rhede, im August 1943. Sie habe Kirschen gepflückt, als sie ihn das erste Mal gesehen habe, erzählt sie. "Mein Kleid war rot wie die Früchte." Sie schwelgt lächelnd in Erinnerungen.

Wenige Monate später trennte der Krieg die frisch Verliebten. "Wartest du auf mich?", hat er sie damals gefragt. "Natürlich warte ich auf dich", lautete ihre Antwort. Der damals 18-Jährige folgte im Frühsommer 1944 seiner Einberufung. Im südfranzösischen Nîmes geriet er in amerikanische Gefangenschaft, während die Alliierten das von Deutschland besetzte Frankreich befreiten. Sie verschifften ihn zusammen mit 3000 anderen Kriegsgefangenen nach Italien. In der Nähe von Neapel landete er in einem Lager, wo er erst an der Ruhr erkrankte und später an Hepatitis. Für vier Wochen sei er ins Koma gefallen, sagt der 88-Jährige. Die Krankheit aber war sein Glück. Er entging durch sie der weiteren Verschiffung nach Afrika. Inzwischen genesen, verlegten die Amerikaner ihn im Herbst 1945 in ein Lager bei Stuttgart, aus dem sie ihn im Oktober entließen. Mit dem Zug fuhr er heim zu seiner Maria.

Die bei Kriegsende 18-Jährige war wohlauf. Jede Nacht habe sie im Luftschutzkeller verbracht, sagt sie. Gebetet hat sie: "Lieber Gott, schick mir meinen Freund wieder." Die Nachricht, dass er am Leben sei, ereilte sie zwar noch während des Krieges. Aber wann er wiederkommt, das wusste sie nicht - genauso wenig wie er ein Vorstellung davon hatte, wie es der Liebsten in der Heimat ging. Nur wer es erlebt hat, kann die Freude eines solchen Wiedersehens nachfühlen. "Paul ist für mich die erste Liebe und die letzte", sagt sie. 1951 zogen die beiden seiner Arbeit wegen nach München, ein Jahr später kam die erste von zwei Töchtern zur Welt.

Wie die beiden da so sitzen, im Gemeinschaftsraum des Pflegeheims, gegen Ende ihres gemeinsamen Lebens, das am Anfang so viel Leid aushalten musste - man kann sie sich nicht getrennt voneinander vorstellen. Sie sind einander eine große Stütze, seelisch sowie körperlich. In der Rückschau auf ihre lange gemeinsame Zeit scheinen die schönen Erinnerungen zu überwiegen. Die ein oder andere Freudenträne kullert zuweilen aus den Augen der alten, aber glücklichen Frau. "Komm Mami, wir gehen nach oben", sagt er zu ihr und hilft ihr hoch. Dann schieben sie ihre Rollatoren aus dem Saal.

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