Krise in der Landwirtschaft:Ruhe im Kuhstall

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Helmut Dietrich war der letzte Milchbauer in Türkenfeld. Die meisten seiner Tiere hat er bereits verkauft. Die Milcherzeugung wurde unrentabel und damit zur Last

Von Stefan Salger, Türkenfeld

Fury und die verschmuste Dori sind die Letzten. Sie haben jetzt sehr viel Platz. Aber sehr wenig Gesellschaft. Die beiden Milchkühe haben sozusagen eine Gnadenfrist bekommen. Weil beide trächtig sind und deshalb nicht geschlachtet werden dürfen. Helmut Dietrich will sich eigentlich nichts anmerken lassen, keine Gefühle zeigen. Ein paar Minuten, bevor er den Reporter an der Holzscheune und dem grauen, unverputzten Silo entlang zum Stall mit der offenen Front vorbeiführt, hat er in der Wohnküche noch abgeklärt sein Repertoire heruntergespult. Nein, da könne man halt nichts machen. Ja, er werde die Aufgabe des Familienbetriebs schon verkraften. Und ja, das sei irgendwie auch ganz gut, weil sich der längst nicht mehr rechnet und Dietrich für die zahllosen Stunden nicht annähernd das bekommt, was andere als Mindestlohn reklamieren. Der letzte Milchviehbetrieb in Türkenfeld wird abgewickelt.

Also steht der Bauer mit dem lichten Haar und dem schlohweißen Bart in der abgewetzten braunen Latzhose und der blauen Weste vor der offenen Front des Stalls, atmet tief durch, schaut auf die triste Szenerie und sagt: "Das war schon auch mein Leben. Man hat wenig Freizeit und eigentlich nie Urlaub gehabt. Aber es war erfüllend. Und ich hab's gern gemacht."

Stimmt ja alles, das mit der fehlenden Rentabilität. Macht ja Sinn, den Laden dicht zu machen. Schließlich ist der Milchpreis monatelang nicht mehr aus dem Keller herausgekommen. Aber zum Teufel mit all der Theorie und aller Vernunft. In der Praxis fällt es Helmut Dietrich verdammt schwer, das Herz seiner Landwirtschaft einfach stillzulegen. Das Herz, das sind die Milchkühe.

Man hat wenig Freizeit und eigentlich nie Urlaub gehabt. Aber es war erfüllend. Und ich hab's gern gemacht": Helmut Dietrich hört auf. (Foto: Günther Reger)

"Dieser Betrieb ist im Programm ,Geprüfte Qualität für Rinder' zertifiziert", ist an einer Stahltür zu lesen. Und ein paar Meter daneben klebt eine Phalanx von Plaketten, die "ausgezeichnete Milcherzeugnisse" bescheinigen - ununterbrochen seit 1992. Aber was nützt es, wenn gar nicht die Qualität zählt, sondern letztlich nur eins: der Preis. Anfang 2014 hatte der pro Liter die 40-Cent-Marke durchbrochen. Leute wie Johann Schamberger, Kreisvorsitzender des Milchbauernverbandes BDM, konnten ihr Glück kaum fassen, hatten sie doch eigentlich nie wirklich damit gerechnet, dass ihre Forderung nach einem "fairen Milchpreis" erfüllt wird.

Dem Frühjahr 2014 aber folgte der Absturz ins Bodenlose, der durch die Abschaffung der Milchquote im April 2015 noch beschleunigt wurde. Die Landwirte suchten ihr Heil in der Mehrproduktion, während gleichzeitig Märkte in China oder Russland wegbrachen und das Angebot deutlich über der Nachfrage lag. Im April rutschte der Preis unter die 25-Cent-Marke für den Liter Milch. Zeitweise zahlten die Molkereien nicht mal 20 Cent.

Der Markt scheint sich gerade langsam zu erholen. Erst am Mittwoch hat der Discounter Aldi die Preise für die Milch-Tetrapacks in den Regalen überraschend deutlich angehoben - für fettarme Frischmilch um 18 auf 60 Cent je Liter und für Vollmilch um 19 auf 65 Cent. Der Preis legte damit um mehr als 40 Prozent zu. Das dürfte in der Branche Signalwirkung haben. Deshalb wird sich auch bald das etwas seltsame Bild ändern, das sich am Freitag im Einkaufszentrum Citypoint in Fürstenfeldbruck bietet: Ein Liter Milch der Rewe-Handelsmarke "Ja" kostet im AEZ mit 42 beziehungsweise 46 Cent deutlich weniger als gegenüber beim Aldi.

Die Kühe Fury und Dori haben eine Gnadenfrist bekommen. (Foto: Günther Reger)

Für Dietrich kommt das viel zu spät. Die Entscheidung, die Milchproduktion aufzugeben, ist nicht mehr rückgängig zu machen. Bald werden auch Fury und Dori folgen, und in spätestens zwei Jahren die letzten der zurzeit noch 38 Masttiere und die sieben Kälber. Dann wird aus dem Milchbauern Dietrich ein Lohnunternehmer, der noch mehr Zeit als bisher damit verbringen wird, im Auftrag des Maschinenrings mit der Rundballenpresse unterwegs zu sein. In der übrigen Zeit wird er seine verbliebenen Felder bestellen und Heu verkaufen. Dietrich ist jetzt 57, seine Frau Ilse 56, ein paar Jahre bis zur Rente müssen sie schon noch durchstehen.

1990, als der damalige Flugzeugmechaniker nach abgeschlossener Landwirtschaftsschule den elterlichen Betrieb übernahm, sah es zwar auch nicht rosig aus, aber niemand rechnete damals mit einer so schweren Krise. Auf 28 Hektar - die Hälfte davon zugepachtet - wurde vor allem das Futter für den Eigenbedarf angebaut. Die Maschinenhalle hatte die Familie da schon zum Laufstall für die 28 Milchkühe umgebaut. Die heute 30 Jahre alte Tochter, eine gelernte Einzelhandelskauffrau, sowie der 28 Jahre alte Sohn, ein Elektroniker, halfen mit und tun das bis heute. Das war wichtig, denn für Angestellte reichte es damals schon nicht.

Ein Wandbild zeugt vom Stolz der Bauernfamilie Dietrich aus Türkenfeld. (Foto: Günther Reger)

Dietrich gehört dem Vorstand der Milchliefergemeinschaft an. Die verkauft an die Karwendel-Werke in Buchloe. Der Türkenfelder ist kein Mann der einfachen Botschaften. Mag der BDM die Molkereien viel stärker in die Pflicht nehmen und sie dazu verpflichten wollen, höhere Preise zu bezahlen, so sieht Dietrich das differenzierter. Auch die Molkereien seien einem hohen Wettbewerbsdruck ausgesetzt, "die Handelsketten setzten denen doch das Messer auf die Brust". Immerhin sei der Literpreis für die Milch mittlerweile wieder auf um die 30 Cent gestiegen.

Auch jenseits der Milch, bei Wintergerste, Weizen und Körnermais, sieht es allerdings unverändert trüb aus. Anfang des Jahres verschärfte sich die Lage für den Betrieb noch durch eine im Stall grassierende Euter-Infektion. Da verkaufte Dietrich die ersten neun Tiere. Es folgten familiäre Schicksalsschläge: Im Februar starb der Vater, im Juni die Mutter, etwas später der Schwiegervater. Da fiel endgültig die Entscheidung, das Herzstück des Hofs, der 1901 von den Großeltern aufgebaut worden war, stillzulegen. Vor vier Wochen wurden bis auf Fury und Dori die letzten Kühe zum Schlachthof gefahren.

Bereits Ende der Achtzigerjahre ist der frühere Anbindestall zum einseitig offenen Laufstall umgebaut worden. (Foto: Günther Reger)

Erleichtert wird Dietrich die ganze Sache immerhin durch die ganzen "Auflagen, Kontrollen, Schikanen und Dokumentationen", die ihm zunehmend den Nerv geraubt haben. Immerhin haben er und Ilse keine Schulden am Bein, haben Traktoren, Melkanlagen oder Ställe nicht auf Pump finanziert, wie viele andere. "Wer viel Geld investiert hat, den beutelt es gewaltig", bestätigt Hans-Jürgen Gulder vom Brucker Landwirtschaftsamt. Mancher kann sich eine Betriebsaufgabe gar nicht leisten und muss versuchen, die Durststrecke durchzustehen. Im Landkreis habe es bislang kaum Betriebsaufgaben aus wirtschaftlichen Gründen gegeben, so Gulder, "aber ein paar werden wohl auf der Strecke bleiben". Im Jahr 2000 gab es im Landkreis etwa 238 Milch produzierende Betriebe, heute sind es ohnehin nur noch 130. Bayernweit hat sich das allgemeine Höfesterben zwar verlangsamt, weshalb Bayerns Landwirtschaftsminister Helmut Brunner (CSU) am Mittwoch im Agrarausschuss des Landtags sagte: "Unsere Bauern trotzen der Krise auf den Agrarmärkten." Der Minister räumte aber ein, dass die Entwicklung der Milchpreise im vorgelegten Agrarbericht noch kaum abgebildet sei und die Zahl der Milchkuhhalter um rund vier Prozent zurückgegangen sei.

Dietrich hat all das hinter sich. Die Milch nun beim Discounter zu kaufen, das schafft er allerdings nicht. Er besorgt sie sich jetzt bei einem anderen Bauern. Nur manchmal holt ihn die Vergangenheit ein. Kürzlich liefen wieder mal ein paar Kinder aus dem Kindergarten Pfiffikus am Hof vorbei. "Wo sind denn die Kühe hin?", fragte eines. Dietrich versuchte gar nicht erst, sich um die Wahrheit herumzudrücken.

© SZ vom 05.11.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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