Gröbenzell:In der Welt des Schweigens

Gröbenzell: Trotz ihrer Entwicklungsstörung ist Emma T. ein aufgewecktes Kind. Mutter Michaela und Schwester Marie unterstützen sie, so gut es geht.

Trotz ihrer Entwicklungsstörung ist Emma T. ein aufgewecktes Kind. Mutter Michaela und Schwester Marie unterstützen sie, so gut es geht.

(Foto: Carmen VoxBrunner)

Die vierjährige Tochter einer Gröbenzeller Familie leidet am Rett-Syndrom. Nicht alle Notwendigkeiten übernimmt die Krankenkasse

Von Anna Landefeld-Haamann, Gröbenzell

Emma T. holt Schwung. Hin und her wippt ihr hölzernes Schaukelpferd. Wie eine Kriegerin sitzt die Vierjährige sicher im Sattel. Mit ihren Händen klammert sie sich an den Griffen fest. Das muss sie auch, denn immer wilder schaukelt sie. Die blauen Augen sind weit aufgerissen. Sie fixieren entschlossen einen Punkt in der Ferne. Ganz so, als ob nichts und niemand Emma und ihr Pferdchen davon abhalten könnte, gleich aus dem elterlichen Wohnzimmer hinauszugaloppieren. Doch heftiges Schnaufen unterbricht den ungestümen Schaukelritt. Emma atmet tief und schwer. Sofort eilt Mutter Michaela T. zu ihr und trägt sie aufs Sofa.

Je nach Tagesform kann Emma sich gut auf den Beinen halten - manchmal sogar ohne die Hilfe ihrer Eltern. Nur in fremder Umgebung laufe sie gar nicht, sagt die 30-jährige Mutter. Deswegen möchte die Gröbenzeller Familie demnächst ein Therapie-Fahrrad kaufen, damit Emma sich auch draußen ohne Reha-Wagen bewegen und so mit ihrer dreijährigen Schwester Marie mithalten kann. Die Krankenkasse übernimmt nur einen Teil der Kosten. Aus diesem Grund möchte der SZ-Adventskalander die Familie unterstützen.

Emmas Glucksen hat sich in quengeliges Quietschen verwandelt. Immer wieder schlägt sie sich mit den Händen gegen den Kopf, zieht einzelne Haarsträhnen aus dem Zopf heraus. "Keine Bange, das ist bei Emma ganz normal", sagt Michaela T. mit ruhiger Stimme. Auf den ersten Blick wirkt Emma wie eine Vierjährige, die vielleicht eine Spur zu heftig getobt hat. Nur wenn man sie genau betrachtet, ahnt man, dass bei dem zierlichen Mädchen etwas anders ist.

Als Emma zwei Jahre alt war, erhielt sie die Diagnose "Rett-Syndrom", eine schwere seelische und körperliche Entwicklungsstörung. Es ist ein seltener Gendefekt auf dem X-Chromosom. Deswegen werden fast nur Mädchen damit geboren, nur etwa 50 Kinder im Jahr. Die Symptome sind vielfältig. Bei allen Betroffenen zeigen sich aber immer sogenannte stereotype Handbewegungen, häufig kommen epileptische Anfälle hinzu sowie Autismus, Schlaf- und Sprachstörungen und motorische Probleme. "Anfangs waren wir sehr niedergeschlagen", erzählt Michaela T.. Viele Abende durchsuchten sie und ihr 39-jähriger Mann Christian das Internet nach vermeintlicher Hilfe. Irgendwann hörten sie auf damit. "Man sollte das nicht tun. Es zermürbt einen nur", sagt Michaela T.. Am häufigsten aber drehten sich ihre Gedanken nur um eine Frage: "Können wir überhaupt noch ein normales Familienleben führen?" Nach diesem Satz weiten sich Emmas ohnehin schon großen Augen noch ein wenig mehr. Sie hört aufmerksam zu. "Auch wenn sie es nicht in Worten ausdrücken kann: Sie versteht ganz genau, dass ich gerade über sie spreche."

Die Schwangerschaft war ohne Komplikationen verlaufen. Michaela T. war zu allen Vorsorgeuntersuchungen gegangen. Sogar eine Nackenfaltenmessung hatte sie in den ersten Schwangerschaftswochen vornehmen lassen. Es gab keine Anzeichen für einen genetischen Defekt. Irgendwann beobachtete Michaela T., dass sich ihre Tochter langsamer entwickelte als andere Kinder. Emma sprach nicht, Krabbeln und Laufen fielen ihr schwer. Sie spielte oft mit ihren Haaren, hatte Wut- und Schreianfälle und wirkte oft abwesend. "Es war nur ein dumpfes Gefühl, aber ich wollte das vom Kinderarzt abklären lassen", so Michaela T.. Gleich nach der ersten Blutuntersuchung hatte die Familie Gewissheit. "Immerhin hatten wir eine eindeutige Diagnose. Dadurch sind Emma viele aufwendige und langwierige Tests im Krankenhaus erspart geblieben."

Dass Emma nicht spricht, daran hat sich die Familie gewöhnt. "Ich kann ihr alles anvertrauen. Sie verrät nichts", erzählt Michaela T. mit einem Schmunzeln. Ab und zu sagt Emma "Ja". Je nach Tonfall erkennen die Eltern , wie es Emma geht. Ein doppeltes Händeklatschen bedeutet "Bitte". Michaela T. ist sicher, dass ihre Tochter vieles versteht. Denn ihr Gehirn funktioniert normal. Das geht aus den regelmäßigen EEG-Untersuchungen hervor. Im Alltag verständigen sich Emma und ihre Eltern unter anderem mit Symbolkarten, von denen es über 6000 verschiedene gibt. Mit diesen kann Emma ausdrücken, wenn sie Durst hat oder Musik hören möchte. "Wir reden miteinander, nur eben auf unsere Weise", erzählt Michaela T..Vielleicht könne Emma in ein paar Jahren in die Grundschule gehen. Dafür muss sie einen Intelligenztest ablegen. Bislang gibt es aber noch keinen, der auf nicht-sprechende Kinder zugeschnitten ist. "Das ist nur einer von vielen Stolpersteinen", sagt Michaela T..

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