Geschichtsunterricht:Vom Wert des Lebens

Abba Noar

Abba Naor hat den Holocaust überlebt. Auch im Alter von 89 Jahren erzählt er Schülern noch täglich davon. Am Donnerstag war er in Fürstenfeldbruck.

(Foto: Günther Reger)

Der 89 Jahre alte Zeitzeuge Abba Naor schildert Fürstenfeldbrucker Berufsschülern, wie er den Holocaust überlebt hat

Von Heike A. Batzer, Fürstenfeldbruck

Als "Zeitzeuge, der im Lager war und zufällig überlebt" hat, stellt Abba Naor sich vor. Er habe nicht die Absicht, über Politik und Israel zu sprechen. Aber er werde auf politische Fragen antworten. Ein paar stellen die 50 überwiegend männlichen Berufsschüler der Sparte Elektrotechnik dann am Ende doch, nachdem sie Abba Naor fast zwei Stunden lang gelauscht hatten in dem kleinen Container-Klassenzimmer der Berufsschule Fürstenfeldbruck, die derzeit neu gebaut wird. Natürlich antwortet er. Zum Beispiel, dass er auf den Tag warte, wo Palästinenser und Israelis beschlössen, Frieden zu schließen. "Die Politiker haben keine Ahnung, was Leben bedeutet."

Abba Naor weiß um den Wert des Lebens. Er hat als Jude den Holocaust überlebt. Seit zwanzig Jahren kommt er täglich an Schulen, um davon zu erzählen. "Nicht Geld, sondern hier so zusammenzusitzen, zu reden und sogar zu diskutieren, das ist Entschädigung für mich", sagt er zu den jungen Erwachsenen, die er dennoch als "Kinder" anspricht. Er halte keinen Vortrag, betont der 89-Jährige zu Beginn, sondern "ich erzähle meine Geschichte - was ich vor 76 Jahren als Kind erlebt habe". Seine Geschichte ist Geschichtsunterricht. Fast zwei Stunden spricht er, nur zwischendurch gönnt er sich mal einen Schluck aus dem Wasserglas. Es ist ganz still im Klassenzimmer. Zwischendurch verlässt Abba Naor sein Rednerpult, von dem aus er auch den Laptop bedient, geht auf die Schüler zu, befragt sie spontan. Weiß jemand die richtige Antwort, gibt es Lob: "Kluger, junger Mann!" Er beobachtet sein Publikum genau: "Manche schlafen ein - aber ich bin nicht beleidigt."

Dabei ist den Schülern nicht wirklich nach Einschlafen zumute. Zu eindringlich erzählt Abba Naor. Berichtet davon, wie er in der litauischen Heimat erst ins Ghetto, dann in die Lager geriet. Berichtet vom Hunger. Von der schweren Arbeit. Von der Angst, "die man nicht los wird, das ganze Leben lang nicht". Das Zuhören macht betroffen. Er sagt, für den Mord an der jüdischen Bevölkerung in Europa seien "genügend Mitläufer da gewesen". Den meisten europäischen Staaten "war es egal. Sonst wäre es gar nicht möglich gewesen, so viele Millionen umzubringen".

Abba Naor stammt aus der Stadt Kaunas in Litauen, wo es in seiner Kindheit "sehr schön war zu leben". Doch als Dreizehnjähriger muss er dort mit der Familie ins Ghetto umziehen. Sein älterer Bruder wird erschossen, seine Mutter und sein jüngerer Bruder werden nach Auschwitz deportiert. Er sieht sie nie wieder. Er überlebt das Konzentrationslager Stutthof bei Danzig und als Zwangsarbeiter die Dachauer Außenlager in Utting und Kaufering. Er muss sich auf den Todesmarsch machen, kommt bis Waakirchen, als Hitler-Deutschland von den Amerikanern befreit wird. Seinen Vater trifft er danach wieder. Er lebt in Israel und München, hat zwei Kinder, fünf Enkel und acht Urenkel.

Der Holocaust hat Spuren hinterlassen in ihm, bis heute. "Meine Frau hat immer gesagt, dass ich ein Verrückter bin", sagt Abba Naor: "Denn wir sind physisch befreit worden, aber nicht seelisch." Was wird aus ihm nach der Befreiung? "Was hatte ich zu bieten?", fragt er und gibt die Antwort gleich selbst: "Gar nichts." Er war damals 17 Jahre alt - ohne Schulbildung, ohne Beruf, ohne Familie. Deshalb beneide er die Kinder heute in der Schule. "Es ist ein Privileg", legt er Brucker Berufsschülern ans Herz: "Nutzt die Gelegenheit, so lange sie da ist!" Seine Appelle bleiben in Erinnerung. Er sei auch da, sagt er, um "die Leute zu warnen vor falschen Propheten".

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