Es mag Familien geben, die es schaffen, den weihnachtlichen Zauber noch zwischen den Jahren am Leben zu halten. Oft ist Heiligabend jedoch der Höhepunkt des Besinnlichen und die folgenden Tage eine Aneinanderreihung von Verpflichtungen. Eine Verlängerung der festlichen Stimmung ist dem Russischen Nationalballett gelungen. Am zweiten Weihnachtsfeiertag gastierte die Kompanie mit zwei Inszenierungen in der Germeringer Stadthalle: Dem in eine Tanz-Gala eingebetteten Einakter "Carmen" zur Musik von Georges Bizet ging am Nachmittag eine Aufführung von Peter Tschaikowskys Jahrhundertballett "Der Nussknacker" voran. Es ist kaum möglich, angesichts des zauberhaften Bühnenbildes zu letzterem nicht wieder Weihnachtsgefühle zu bekommen. Die Attrappe eines funkelnd geschmückten deckenhohen Christbaums ist das Zentrum eines viktorianisch anmutenden Interieurs, in welchem sich die Weihnachtsfeierlichkeiten um das Mädchen Marie abspielen. Um diesen herum flirren die prachtvoll gewandeten Hausgäste, die zu einem einzigen bunten Schwarm aus pudrigen Perücken, bonbonfarbenen Gewändern und verklärt lächelnden Gesichtern mutieren.
Das Miteinander von puppenhaften Menschen und zu Menschen erweckten Puppen zieht sich durch das Ballettstück, das 1892 uraufgeführt wurde. Die Choreografie von Marius Petipa transportiert jene Grenzzustände meisterhaft. In ihren steifen Bewegungen erinnern die zuckrig schön überschminkten Tänzer selbst an Marionetten in einem Puppenhaus. Das Puppenspiel im Puppenspiel fügt Onkel Drosselmeyer, getanzt von Rostislav Desnitskii, hinzu. Seine Darbietung ist geprägt von einer latent bedrohlichen Mystik, wenn er, wie ein Vampir in violettem Samt, seine mechanischen Puppen tanzen lässt.
Zum Liebling Maries wird der Nussknacker, seinerseits zum Leben erweckt in einer majestätischen Performance von Dmitrii Poliakov. Sein Tanz ist elegant und athletisch, geprägt von Sprüngen und in der Wirkung verstärkt durch das tiefrote Kostüm, unter dem sich jede Muskelbewegung abzeichnet. Merklich weicher, organischer wird sein Auftreten, als er zum Menschenprinzen wird. Die Auferstehung der Puppen und die schöpfergleiche Führung Drosselmeyers hat eine schon im Libretto angelegte, romantische Frankenstein-Ästhetik, die die Tänzer des Russischen Nationalballetts wunderbar ausreizen.
In einer der spektakulärsten Szenen treffen Nussknacker und Mäusekönig aufeinander. Heroischer Edelmut prallt darin auf animalische Triebhaftigkeit, die den Auftritt von Aleksei Riumin dominiert. Wie das Böse getanzt aussieht, hat jener, der auf Widersacher-Rollen, wie die des schwarzen Magiers Rotbart in "Schwanensee", spezialisiert ist, mit der Zeit perfektioniert. Am Rande des Gewirrs aus Zinnsoldaten und Mäusekriegern steht als dritter Pol die in weißer Unschuld gekleidete Marie, getanzt von Anna Serogina. Auch sie schwankt durch die engelsgleiche Perfektion ihrer Bewegungen zwischen Mensch und Puppe. Im Pas de deux mit ihrem Nussknacker-Prinzen verschmelzen die beiden zum Ideal einer im wahrsten Sinne märchenhaften Zweisamkeit.
Die Festsaaltänze im zweiten Akt bringen den Traumcharakter der Geschichte noch einmal auf den Punkt. Nun erklingt die berühmte Nussknacker-Suite, tanzende Süßigkeiten wirbeln in prächtigen Kostümen über die Bühne zu Musik, die selbst wie Glitzer klingt. Spanischer, Russischer oder Französischer Tanz werden präsentiert von Schokolade, Pfefferminze oder Zuckerröhren. Am meisten fängt der Orientalische Tanz den Blick. Hypnotisch langsam ist die Darbietung in schillerndem Mitternachtsblau, die dem Ganzen einen Hauch Tausendundeine Nacht hinzufügt.
Jenes Orientalisch-Mystische im Herzen der Märchentradition schlägt einen Bogen zur Jeannie-Figur, die als Erzählerin durch die Handlung führt. Sie ist es auch, die das Publikum zum Schluss noch einmal an die weihnachtliche Essenz der "Nussknacker"-Fantasie erinnert, wenn sie sagt: "Ihr sollt niemals aufhören, zu träumen."