Germering:Eine Kindheit auf der Flucht

Senioren-Lesung

Geschichten von der Flucht: Annelore Taube liest in der Stadtbibliothek Germering aus ihren Erinnerungen.

(Foto: Günther Reger)

Die Germeringerin Annelore Taube hat die Geschichte ihrer baltendeutschen Familie aufgeschrieben, die 1939 Estland verlassen musste

Von Svenja König, Germering

Annelore Taube, Geburtsname Krusenstjern, hat im Jahr 1997 angefangen, ihre Lebensgeschichte für ihre Töchter aufzuschreiben. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe "Literatur für Senioren" des Seniorenbeirats las sie in der Stadtbibliothek aus ihren Memoiren. Die tragen den Titel: "Mitten im Krieg". Seit 40 Jahren lebt die 1938 geborene Taube in Germering. Angesichts der Flüchtlinge sei ihr der eigene Flüchtlingshintergrund wieder bewusst geworden, sagte sie. Denn ihre Familie zählt zu den Baltendeutschen. Diese deutschsprachige Minderheit war über viele Jahrhunderte in Estland und Lettland ansässig. Aufgrund des Hitler-Stalin-Pakts im Jahr 1939 wurden die Deutschen aus den baltischen Ländern ins Reichsgebiet umgesiedelt.

In Briefauszügen ihrer Mutter beschreibt Taube den rund zwanzig Zuhörern im Lesecafé die Nächte im Berliner Bombenkeller: "Wir wandern fast jede Nacht in den Keller." Schon abends wurde die kleine Annelore zum Schlafen in einen Wäschekorb gelegt, um sie bei Alarm schnell in den Keller transportieren zu können. Die drei Jahre ältere Schwester Christina schlief auf dem Schoß der Mutter. Um den Bombenangriffen auf Berlin, die in der zweiten Hälfte des Jahres 1940 begannen, zu entgehen, ließ sich Taubes Vater ins Reichssippenamt nach Posen ins eroberte Polen versetzen. Posen war das Zentrum der umgesiedelten Baltendeutschen. "Baltische Familien wurden in Wohnungen einquartiert, in denen sogar noch Essen auf den Tischen stand", erzählt Taube.

Ihre eigenen Erinnerungen sind vor allem mit dem Haus verbunden, in dem die Familie unterkam: Mit dem Treppengeländer, das sie zu einer Rutsche umfunktionierte, der Küchenhilfe Isa, die Linsensuppe, Taubes Lieblingsessen, zubereitete und der nächtlichen Angst, unter dem einstürzenden Haus begraben zu werden. Denn auch Posen blieb nicht vom Krieg verschont. Dreimal wurde das Haus der Familie Krusenstjern von Bomben getroffen. Das gesamte Dachgeschoss brannte ab und stürzte teilweise ins Kinderzimmer. Die Puppe ihrer Schwester fiel dem Brand zum Opfer. "Die Kriegsrealität macht auch nicht vor Kinderzimmern halt", kommentiert Taube den Verlust. Wie eine Auszeit vom Krieg erschien der Familie deshalb der Sommerurlaub 1944 in Estland. Das Ferienhaus stand direkt am Strand in Brigitten (heute Pirita) bei Reval (heute die Hauptstadt Tallinn). Als Vierjährige hat Taube angenommen, dass es "ihre Stadt" war, zumindest die ihres Vaters, so erhaben wie er durch die von den Deutschen besetzte Stadt schritt. "Die Erinnerung an alles Vergangene machte die Anziehungskraft des Ortes aus", urteilt Taube heute über die drei Monate in ihrem Geburtsort.

Doch der Sommer dauerte nicht ewig, die Familie musste zurück nach Posen. 1944 war das Jahr von Taubes Einschulung, doch wirklich viel Unterricht hatte sie wegen des Fliegeralarms nicht. Bei Angriffen mussten die Kinder schnell durch die verlassenen Straßen laufen und sich zu Hause in den Kellern verstecken, erinnert sich die Erzählerin. Die Badewannen waren vorschriftsmäßig mit Wasser gefüllt und nachts herrschte Verdunkelungsvorschrift. Im Winter 1945 rückte die Rote Armee immer näher. Am 10. Januar um neun Uhr abends kam der Befehl, die Stadt Posen innerhalb von drei Stunden zu räumen. Ein einziger schwerbepackter Menschenstrom war zum Bahnhof unterwegs, "das Nadelöhr in den Westen". Noch heute kann sich Taube an die Angst erinnern, von den Massen zertrampelt zu werden. Später habe sie erfahren, dass dies tatsächlich das Schicksal vieler Kinder in dieser Nacht war. Doch sie und ihre Familie schafften es in einen Zug für Frauen und Kinder. Ihr Ziel sollte Dresden sein, denn niemand konnte sich vorstellen, dass diese Kunststadt jemals angegriffen werden sollte. Bei einer Tante kam die Familie unter. Ihrem Ehemann, der sich in Berlin aufhielt, schilderte Taubes Mutter in einem Brief die Flucht: "Wir sind durchs Feuer gegangen."

Doch tatsächlich kam das Inferno erst noch auf sie zu. Am 13. Februar begann die Bombardierung Dresdens. Noch am selben Tag hatte Familie Krusenstjern ihr Gepäck am Bahnhof aufgegeben, um sich mit Vater Georg zu treffen. In dieser Nacht verloren sie ihren letzten Besitz, da der Bahnhof dem Feuer zum Opfer fiel. "Wir sind jetzt arm wie die Bettler, sagen meine Eltern", wiederholt Taube ihre damaligen Gedanken. Zu Fuß machten sie sich, wie viele andere, auf den Weg aus der Stadt. Zwei ganze Tage glaubte Taubes Vater, seine gesamte Familie verloren zu haben. "Sie haben alles verloren", schrieb Vater Georg nach ihrem Wiedersehen in sein Tagebuch. "Aber es ist wie ein Wunder, sie haben alle überlebt."

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