Germering:Dem Schrecken trotzen

Beim "Literacoustic-Open-Air" in Germering lassen sich die Künstler ihre Lust am Leben nicht nehmen

Von Valentina Finger, Germering

Schon im Zuge des ersten von drei Auftrittsblöcken kann man bei genauem Hinsehen erkennen, wie der Gesichtsausdruck einiger Besucher des "Literacoustic-Open-Air" in der Jugendbegegnungsstätte Cordobar ein anderer wird. Es sind die Nachrichten von der Schießerei am frühen Freitagabend, die langsam von München nach Germering durchdringen. Einer der Wortpoeten, Sebastian Lederer, der gerade noch in seinem Beitrag das Ungleichgewicht in der Welt angeklagt hat, bricht vorzeitig auf. Er ist beim Bayerischen Roten Kreuz und wird in München gebraucht. So erfährt auch Cordobar-Mitarbeiterin Sophie Schuhmacher, die die Veranstaltung mitorganisiert hat, als eine der ersten von den Ereignissen am Olympia-Einkaufszentrum. Denn Lederer ist ihr "Schwager in spe", wie sie ihn als Moderatorin des literarischen Sommerfestes zuvor angekündigt hat. Ein Satz aus dessen Text "Kleine Welt" bekommt angesichts der Umstände rückblickend eine tiefer greifende Bedeutung: "Wir sind die Mörder unserer Zukunft als Menschen."

Cordobar

In gelöster Stimmung zeigten sich die jungen Künstler am Beginn des Open Air. Da war der Amoklauf von München noch nicht bekannt.

(Foto: Günther Reger)

In seinen niedergeschriebenen Gedanken thematisiert Sebastian Lederer die Wegschau-Kultur und Politikverdrossenheit der Gegenwart. Ebenso kritisieren wollen die Beiträge von Jan Stockwald. "Pejorative Lyrik" nennt dieser das, was er tut, was bedeutet: Er macht einfach alles nieder, was ihm in der Presse den Beinamen "Lästermaul" einbrachte, den er stolz auf seinem T-Shirt trägt. Seine Texte sind kriegskritisch, militärkritisch, regierungskritisch. Ebenfalls nicht fröhlich, jedoch anders nachdenklich, ist die lyrische Prosa von Miro. Sie steht, im Gegensatz zu den meisten Teilnehmern, erstmals auf der Cordobar-Bühne und trägt Selbstgeschriebenes vor, das ihre Gedanken zum menschlichen Mit- und Auseinander wiedergibt. Das tut sie barfuß, so wie auch Moderatorin und Veranstalterin Sophie Schuhmacher. Diese liest romantisch-traurige Texte vor, von denen zwei vor rund sechs Jahren entstanden sind, als Schuhmacher 14 Jahre alt war, und die vom Liebeskummer eines Teenagers handeln.

Cordobar

Poet Sebastian Lederer muss seine Teilnahme abbrechen, als er als Rettungsdienstler alarmiert wird.

(Foto: Günther Reger)

Zum Lachen sind dafür die Wortspielereien von Konstantin Lederer und die Unbeholfenheit, mit der die Tiptones das Open Air eröffnen: Das musikalische Trio covert Popsongs wie "Demons" von Imagine Dragons oder Bon Jovis "Bed of Roses" und wird dabei der Selbstironie nicht müde. Dass viele falsche Töne dabei sind, lässt sich nicht verleugnen, doch eines wird dafür mehr als deutlich: Das spielt keine Rolle, man ist unter Freunden.

Es ist das dritte Mal, dass in der Cordobar ein solcher literarischer Abend stattfindet, allerdings das erste Mal, dass mit Musik und Outdoor-Bühne ein festivalähnliches Mini-Open-Air daraus geworden ist. Auftreten darf jeder. "Wir achten nicht darauf, ob jemand einen Ruf hat und lesen die Texte auch vorher nicht durch. Jeder soll die Chance bekommen, auf der Bühne zu stehen", sagt Schuhmacher.

Sowohl Künstler als auch Zuschauer kennen sich, sind auch jenseits solcher Events oft und gerne zusammen. Manche haben raspelkurze grüne oder pinke Haare, Dreadlocks und Piercings und sammeln Eintrittsbändchen zu Musik-Festivals an den Handgelenken. Sie teilen Insider-Witze und erinnern sich an gemeinsame Erlebnisse, während die Band auf der Bühne mit der Technik kämpft und dabei munter mitlacht. Damit jene Technik nicht beschädigt wird, wird alles aufgrund des einsetzenden Regens nach dem ersten Drittel nach drinnen verlegt. Es ist auch dieser Moment, in dem die Diskussion startet, ob man nach dem, was in München passiert ist, nicht lieber abbricht. "Wir haben es erwogen, uns aber dagegen entschieden, denn genau das soll mit solchen Taten erreicht werden", sagt Schuhmacher. Diese Überzeugung teilen fast alle Anwesenden. Den nachfolgenden Künstlern hat man selbst überlassen, ob sie weiterhin auftreten möchten. Mit nur einer Ausnahme stand jeder noch auf der Bühne.

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