Fürstenfeldbruck:Welt der Amazonen

Eine raffiniert getanzte Liebeserklärung von Noa Wertheim

Von Valentina Finger, Fürstenfeldbruck

Über die mythologischen Amazonenvölker sagt man, sie hätten ganz ohne Männer zusammengelebt. In einem solchen Amazonenstaat gibt es keine Unterdrückung von Frauen, kein Patriarchat und damit keine Notwendigkeit, sich zu emanzipieren. Nicht Männer nutzen Frauen in dieser Vorstellung sexuell aus, wie es nicht nur in der Unterhaltungsbranche oft geschieht. Vielmehr ziehen die Amazonen besiegte männliche Krieger nach Belieben zu Fortpflanzungszwecken heran und schicken sie dann wieder fort. Stellenweise wirkt es so, als würde Noa Wertheim eine solche feministische Utopie in ihrer Tanzpoesie visualisieren. Mit ihrer "Vertigo Dance Company" gastierte die israelische Choreografin am Mittwoch im Veranstaltungsforum. Das Jubiläumsstück "Vertigo 20", das 2013 in Tel Aviv erstmals aufgeführt wurde, soll 20 Jahre künstlerische Zusammenarbeit in einer Show vereinen.

Eine Umkehrung der Geschlechterrollen wird direkt zu Beginn suggeriert: Athletisch und kraftvoll, mit Anleihen aus gleichsam Ballett und Kampfsport, eröffnen die Frauen die Tanzfläche. Einen ganz anderen, weitaus zarteren Eindruck erweckt das Duett zweier Männer. Liebevoll ist ihr Miteinander, sie gehen aufeinander ein, berühren sich, während die Frauen synchron nebeneinander tanzen. Wenige Tanzschritte reichen in Wertheims Eröffnungssequenzen aus, um seit Jahrhunderten etablierte Klischees über das, was typisch Mann oder typisch Frau sein soll, in Frage zu stellen.

Die erste Hälfte des Stücks ist geprägt von einem regen Wechsel aus Trennung und Wiederzusammenfindung. Mal tanzen alle gemeinsam in einem martialischen Pulk wie ein gemischtgeschlechtliches Kriegervolk. Dann wieder werden die Männer durch die opulente Weiblichkeit der Tänzerinnen übermannt. Bauchtanz-ähnliche Bewegungen verleihen der Choreografie an jener Stelle eine orientalisch anmutende Erotik, in die die männlichen Tänzer schließlich einsteigen. Der Mann, so scheint es, passt sich der Frau an. Geben sich die Männer zwischendurch archaisch-instinkthaften Machtkämpfen hin, sind es die Frauen, die dem Männlich-Sein-Wollen Einhalt gebieten. Man findet sich wieder in einer Amazonenwelt, in der sich Frauen nicht emanzipieren müssen, weil sie bereits das führende Geschlecht sind.

Doch der in diesen Szenen mitschwingende feministische Kampfschrei ist nur die Vorbereitung zu etwas Höherem. Ganz Frau muss man sein dürfen, um ohne Verlustängste eins mit dem Mann werden zu können. Deutlich wird die Verschmelzung der Geschlechter mitunter in einem Paartanz im ersten Abschnitt, der die symbiotische Beziehung der Liebenden illustriert.

Die Einheit aller Menschen, losgelöst von ihrem Geschlecht, zieht sich durch die zweite Hälfte der Darbietung. Anmutig bewegen sich alle elf Tänzer zusammen in einem buchstäblichen Kreislauf, aus dem immer wieder jemand ausbricht, dann jedoch stets in die Reihe zurückkehrt. Getanzt wird von nun an meist eng im Schwarm, Lichtkegel unterstreichen das runde Ganze. So endet die Aufführung, die durchgängig durch eine wunderschöne und gar nicht traurige Düsternis in Lichtdesign, Kostüm und Musik besticht, in einem Reigen, der keine Unterschiede mehr kennt und doch die Individualität eines jeden feiert. Noa Wertheims Jubiläumsstück ist eine innovativ choreografierte und raffiniert getanzte Liebeserklärung, sowohl an das Mann-Sein als auch an das Frau-Sein, aber eigentlich einfach an das Mensch-Sein an sich.

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