Kriegsende 1945:Der Todesmarsch durch Fürstenfeldbruck

Evakuierungsmarsches von KZ-Häftlingen auf der Neuen Bergstraße in Landsberg, Foto: Johann Mutter, ca. 24. April 1945., Quelle: Stadtarchiev Landsberg

Eskortiert von bewaffneten Aufsehern sind KZ-Häftlinge am 24. April 1945 auf der Neuen Bergstraße in Landsberg unterwegs.

(Foto: Johann Mutter/Stadtarchiev Landsberg)

Kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs treibt die SS Tausende Gefangene aus den KZ-Lagern durch den Landkreis. Ein damals Sechsjähriger und ein Häftling erinnern sich.

Von Peter Bierl, Fürstenfeldbruck

Das Klappern von Tausenden von Holzschuhen lockte die Brucker auf die Straße. Die letzte Phase der NS-Verbrechen spielte sich vor ihrer Haustür ab. Sechs größere und einige kleinere Todesmärsche mit Überlebenden aus den KZ-Außenlagern bei Kaufering wurden von der SS im Frühjahr 1945 durch den Landkreis getrieben. Dazu fuhr ein Zug von Kaufering nach Emmering, der bei Schwabhausen von amerikanischen Tieffliegern versehentlich bombardiert wurde. Insgesamt kamen bei den Todesmärschen aus Landsberg etwa 360 Menschen ums Leben, schätzt die Historikerin Edith Raim.

"Was sind das für Leute", fragte sich Frank Grüber. Als sechsjähriger Junge stand er in der Dachauer Straße gegenüber dem Krankenhaus, zusammen mit Mutter und Tante, als die überlebenden Häftlinge vorbeigingen. "Meine Mutter war total erschüttert", erzählt er. Sie habe den ausgemergelten Gestalten Brot hingeworfen, aber die Bewacher stießen es mit den Füßen zur Seite. Was seine Tante empfand, weiß er nicht. Sie war eine der ranghöchsten weiblichen NS-Funktionärinnen des Dritten Reiches gewesen.

"Der Name dieser Stadt ist mir im Gedächtnis geblieben, nicht nur weil er mir sonderlich vorkam, auch nicht, weil ich nach zehn Monaten Lager und Wald das erste Mal wieder eine Stadt erblickte. Es gab noch einen weiteren Grund", notierte Zwi Katz in seinen Erinnerungen. Aus den Fenstern sei ihnen Brot zugeworfen worden. "Es war aufmunternd und stimmte mich optimistisch, der Krieg ging sichtlich zu Ende." Sein Bericht ist bemerkenswert, weil sich die meisten Überlebenden nicht an Ortsnamen erinnern.

Diese Todesmärsche waren lange Zeit ein Tabu. Obwohl so viele Zeugen geworden waren, fand dieses Ereignis in den Ortschroniken keine Erwähnung. Erst 1990 machten sich der Lehrer Ulrich Bigalski sowie die Journalisten Anselm Roth und Dirk Walter auf die Spurensuche. Einige wenige Augenzeugen berichteten ihnen von den erschöpften, abgemagerten Menschen in gestreifter Häftlingskleidung, die von ihren SS-Bewachern gnadenlos angetrieben wurden. Anwohner hätten den Häftlingen Kartoffeln, Brot oder Wasser geben wollen, seien aber von ihnen abgedrängt und bedroht worden. Ein SS-Mann wollte eine Bruckerin mit dem Gewehr auf den Kopf schlagen, in Emmering wurde Anwohnern beschieden, man würde sie "gleich mitnehmen". Aus Untersuchungen der Amerikaner sowie einer niederländischen Kommission, Meldungen der Gemeinden an den Landkreis im November 1946, Berichten von Zeitzeugen sowie den Recherchen von Historikern und Journalisten ergibt sich ein ungefähres Bild vom Verlauf dieser Todesmärsche im Landkreis.

Kriegsende 1945: An der Dachauer Straße in Fürstenfeldbruck passierten die Häftlinge die Stelle, an der heute das Mahnmal an den Todesmarsch erinnert.

An der Dachauer Straße in Fürstenfeldbruck passierten die Häftlinge die Stelle, an der heute das Mahnmal an den Todesmarsch erinnert.

(Foto: Carmen Voxbrunner)

Einer der Überlebenden ist Karl Rom, der heute in Schäftlarn lebt. Er war mit seiner Familie 1941 ins Ghetto von Kaunas in Litauen gesperrt worden. Er überlebte dort Massenerschießungen und Typhus. Im Sommer 1944 wurde er mit dem Zug nach Kaufering gebracht. Dort sollten Überlebende der von den Deutschen ermordeten jüdischen Bevölkerung Osteuropas Betonbunker bauen für die Fertigung von Flugzeugen von Dornier sowie des neuen Jagdflugzeuges der Firma Messerschmitt. Die Organisation Todt ließ dort unter dem Tarnnamen im Sommer 1944 elf Außenlager bei Landsberg, Kaufering, Türkheim und Utting einrichten.

Dazu gab es ein weiteres Außenlager auf dem Fliegerhorst bei Penzing und ein kleines Lager bei Türkenfeld. Weitere Lager waren im Bereich von Geltendorf geplant. Rom war im Lager 3 eingesetzt. "Die Mauern des Bunkers waren fünf Meter dick, darin sollten Flugzeuge montiert und direkt von einer Startbahn davor aufsteigen", erzählt er. Mindestens 23 000 Menschen, darunter Frauen und Kinder, wurden in die Landsberger Lager verschleppt, schätzt Raim.

Die Dunkelziffer liegt höher, betont die Dozentin für Geschichte an der Universität Augsburg. Sie hausten in Erdlöchern, die mit Pressspanplatten zugedeckt waren, es war schmutzig und überall gab es Ungeziefer. Ihre Kleidung war dünn und löchrig, das Essen knapp und schlecht. In den Lagern grassierten Fleckfieber, Tuberkulose und Typhus. Die Arbeit war mörderisch. Wie Sklaven mussten sie Zementsäcke schleppen, Schienendämme bauen und Bäume fällen. Zweimal erlebte Rom, wie Gefangene auf nassen Brettern ausglitten, in die Betonmischung fielen, darin ertranken und eingemauert wurden. Bereits im September und Oktober wurden mehr als 1300 Menschen als nicht arbeitsfähig nach Auschwitz geschickt und ermordet.

Rund um die Kauferinger Lager entstanden Massengräber. Stadt und Gemeinden fürchteten um ihr Trinkwasser, der Landrat drängte noch im Februar 1945 auf ein Krematorium. Insgesamt dürfte ein Drittel bis die Hälfte der Gefangenen ermordet worden sein, sagt Raim, die seit vielen Jahren zu den Landsberger Außenlagern geforscht hat.

Für die Einheimischen waren die Vorgänge kein Geheimnis: Kolonnen marschierten auf dem Weg zur Arbeit an ihnen vorbei oder sie hatten Passierscheine, um als Abkürzung ein Lager zu durchqueren. Die Bauern liehen sich Erntehelfer und Aufräumkommandos wurden eingesetzt. Bei ihren Kontaktversuchen stießen die Häftlinge bei den meisten Deutschen auf Ablehnung und Gleichgültigkeit.

Der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, wollte die Lager bombardieren lassen, um die Häftlinge zu töten. Aber die Aktion mit dem Decknamen "Wolke A1" konnte mangels Bombern nicht umgesetzt werden. So verfielen NS-Funktionäre auf die Idee, die Gefangenen per Bahn oder zu Fuß ins Stammlager Dachau zu bringen. Das Lager IV, das Krankenlager, ließ der SS-Arzt Blancke am 27. April anzünden. Die Amerikaner entdeckten 360 Leichen in den Erdhütten.

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Karl Rom hat den Marsch überlebt.

(Foto: Johannes Simon)

Am 24. April marschierten etwa 1500 Häftlinge los. Ihr Weg führte sie über Schwabhausen, Geltendorf, Moorenweis nach Jesenwang. Vier Häftlinge konnten dort fliehen und versteckten sich im Wald, wo sie ein russischer Zwangsarbeiter versorgte. Die Kolonne war bald so weit auseinandergezogen, dass Augenzeugen später von zwei Zügen berichteten, die Bruck am 25. und 26. April erreichten. Die Häftlinge gingen in Viererreihen und hatten einen Leiterwagen dabei für die, die nicht mehr konnten. Sie zogen auf der Landsberger-, Pucher- und Dachauer Straße in Richtung Emmeringer Hölzl, wo sie anscheinend übernachteten. Zeugen erzählten, am nächsten Tag sei im Hölzl kein Gras mehr neben dem Weg gewachsen und keine Blätter an den Sträuchern gehangen, weil die Häftlinge alles aufgegessen hatten.

Diese liefen weiter auf der Roggensteiner Straße, wo sich ihre Spur verliert. Entweder trieben ihre Bewacher sie zu Fuß weiter über Esting oder entlang der Gleise nach Dachau oder sie wurden unweit der heute noch stehenden so genannten Hitler-Brücke in Waggons verladen. Dort verlief während des Krieges eine Bahnlinie über Gröbenzell nach Allach. Ein zweiter größerer Todesmarsch führte einem amerikanischen Dokument zufolge auf der Route der heutigen Lindauer Autobahn aus dem Außenlager Türkheim über Windach, Etterschlag, Unterpfaffenhofen und Germering nach Pasing. Der Geistliche Anton Birkmeier aus Germering berichtete später von zwei Juden, die entflohen seien und die er in seinem Haus versteckt habe. In seinem Bericht fehlen genauere Angaben, aber möglicherweise handelte es sich um zwei Menschen aus diesem Todesmarsch.

Ein Zug aus Kaufering wurde am 27. April im Bahnhof von Schwabhausen von Tieffliegern bombardiert, die Piloten verwechselten die Waggons möglicherweise mit einem Nachschubzug der Wehrmacht. Etwa 170 Gefangene kamen ums Leben.

Vier weitere Todesmärsche mit insgesamt 9600 Gefangen führten nach amerikanischen Quellen zwischen dem 23. und dem 27. April vom KZ Dachau über Geiselbullach und Esting nach Emmering, wo die Menschen in die Bahn verladen und über Pasing nach Süden transportiert wurden. "Es war entsetzlich. Sie hatten Lumpen um die Füße gebunden oder Holzschuhe an. Sie wurden von den Wachen durchgetrieben", erzählte eine Zeitzeugin Jahrzehnte später dem SZ-Journalisten Roth.

Von dem großen Zug durch die Mitte des Landkreises trennten sich möglicherweise kleinere Gruppen. Außerdem gab es Märsche aus kleineren Außenlagern kreuz und quer durch den Landkreis. In späteren Berichten aus den Gemeinden ist von kleineren Gruppen bereits im März und Anfang April die Rede. Dünzelbach und Eismerszell meldeten je 400 Menschen, Pfaffenhofen 450, Puch 400, Hattenhofen 150 und Adelshofen etwa 30 die durch ihre Dörfer gezogen waren. In Bruck sollen am 27. April weitere 500 KZ-Opfer durchmarschiert sein. Die Gemeinde Emmering meldete an drei Tagen insgesamt 9000 Menschen. Am 29. April, als die Amerikaner kurz vor Bruck standen, tauchte eine Gruppe von Gefangenen in Gröbenzell auf.

Einen dieser kleineren Züge machte Rom mit. Am 26. April 1945 marschierten sein Vater und er mit etwa 150 Leidensgenossen los. Ihre Bewacher waren sehr unsicher. "Es wurde gemunkelt, die Amerikaner seien schon in der Nähe", erzählte er der SZ. Die Wachen trieben die Gruppe durch die Wälder und mieden Ortschaften. Zu essen gab es nichts, außer das Gras, das die Gefangenen ausrupfen durften. Es ging langsam voran, weil die Häftlinge schwach waren. "Wir sind nicht marschiert, sondern haben uns dahingeschleppt, mit kurzen Pausen. Die Nacht haben wir auf einer Wiese und im Wald verbracht." Rom ging bis ins Außenlager Allach, dessen Überlebende die Amerikaner am 30. April befreiten. Rom war damals 18 Jahre alt und wog nur noch 42 Kilogramm. Aber er und sein Vater hatten überlebt.

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